Vorhang
der man einen echten Wissenschaftler mehr kränken kann. Judith sah mich nur geringschätzig an und holte zu einer weiteren langatmigen und gelehrten Erklärung aus. Die Essenz davon war, soweit ich es mitbekam, dass irgendwelche obskuren westafrikanischen Stämme eine bemerkenswerte Immunität gegen eine gleichermaßen obskure, wenn auch tödliche Krankheit namens Jordanitis gezeigt hatten – benannt nach einem gewissen Dr. Jordan, der sie als Erster entdeckte. Es war eine äußerst seltene Tropenkrankheit, an der ein- oder zweimal Weiße erkrankt und gestorben waren.
Ich wagte es, Judiths Zorn noch zu steigern durch meine Bemerkung, dass es wohl vernünftiger sei, nach einem Mittel gegen die Nachwirkungen von Masern zu suchen.
Mitleidig und herablassend machte sie mir klar, dass nicht das Wohl der Menschheit, sondern die Vermehrung des menschlichen Wissens das einzig erstrebenswerte Ziel sei.
Ich blickte durchs Mikroskop auf einige Präparate, studierte einige Fotos von westafrikanischen Eingeborenen, die wirklich ganz amüsant waren, sah einer schläfrigen Ratte ins Auge und eilte wieder hinaus ins Freie.
Wie ich schon sagte, wurde mein Interesse vor allem durch eine Unterhaltung zwischen Franklin und Poirot geweckt.
»Wissen Sie, Poirot«, sagte Franklin, »der Gegenstand gehört eigentlich eher in Ihr Gebiet als in meins. Die Kalabarbohne dient zur Feststellung von Schuld oder Unschuld. Diese westafrikanischen Stämme glauben daran – oder taten es wenigstens –, heute werden sie immer aufgeklärter. Sie kauen die Bohne feierlich im Vertrauen darauf, dass sie ihnen den Tod bringen wird, wenn sie schuldig sind, und ihnen nicht schaden wird, wenn sie unschuldig sind.«
»Und dann sterben sie?«
»Nein, nicht alle. Diesen Umstand hat man bis heute immer übersehen. Es steckt eine ganze Menge dahinter – wie ich annehme, ein Medizinmannschwindel. Von dieser Bohne gibt es zwei verschiedene Arten – aber sie sehen sich so ähnlich, dass kaum ein Unterschied feststellbar ist. Tatsächlich gibt es jedoch einen. Beide Arten enthalten Physostigmin und Geneserin und die übrigen Bestandteile, doch bei der zweiten Art kann man, so glaube ich wenigstens, noch ein weiteres Alkaloid unterscheiden – und die Wirkung dieses Alkaloids neutralisiert die Wirkung der anderen. Interessant ist noch, dass die zweite Art Bohnen regelmäßig von einem ausgewählten Kreis in einem geheimen Ritual gegessen wird – und diese Eingeborenen sterben nie an Jordanitis. Die erwähnte dritte Substanz hat eine bemerkenswerte Wirkung auf das Muskelsystem – ohne schädliche Folgen. Das alles ist verdammt aufregend. Leider ist das reine Alkaloid sehr unstabil. Dennoch komme ich zu Ergebnissen. Aber was wirklich nötig wäre, das ist Forschung an Ort und Stelle. Das müsste unbedingt getan werden! Ja, bei Gott, das ist… Was würde ich nicht darum geben – « Er brach abrupt ab. »Entschuldigen Sie!«, sagte er lächelnd. »Diese Dinge regen mich immer so auf.«
»Allerdings«, meinte Poirot gelassen, »würde ich es in meinem Beruf viel leichter haben, wenn sich Schuld und Unschuld so einfach feststellen ließen. Ach, wenn es doch eine Substanz gäbe, die die Wirkung hat, die man der Kalabarbohne zuschreibt.«
»Damit wären Ihre Schwierigkeiten noch lange nicht beendet«, erklärte Franklin. »Was heißt schließlich schon Schuld oder Unschuld?«
»Darüber kann doch wohl kein Zweifel bestehen«, warf ich ein.
Franklin wandte sich zu mir. »Was ist böse? Was ist gut? Die Vorstellungen darüber sind in jedem Jahrhundert verschieden. Durch einen Test ließe sich wahrscheinlich nur ein Gefühl von Schuld oder Unschuld feststellen. So ein Test wäre völlig wertlos.«
»Ich verstehe nicht, wie Sie zu diesem Schluss kommen.«
»Mein Lieber, stellen Sie sich einen Mann vor, der glaubt, von Gott befugt zu sein, einen Diktator oder einen Wucherer oder einen Zuhälter, oder wer immer seine moralische Entrüstung erregt, umzubringen. Ihrer Ansicht nach macht er sich eines Verbrechens schuldig – aber er selbst hält sich für unschuldig. Was kann die arme Testbohne in so einem Fall ausrichten?«
»Aber Mord ist doch gewiss immer mit einem Gefühl von Schuld verbunden«, rief ich.
»Es gibt eine Menge Leute, die ich liebend gern umbringen würde«, sagte Dr. Franklin munter. »Ich glaube nicht, dass mein Gewissen mir danach den Schlaf rauben würde. Wissen Sie, ich bin der Ansicht, dass achtzig Prozent der menschlichen Rasse
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