Vorhang
enttäuscht. Dr. Franklin, dessen ehrgeizige Pläne vereitelt worden waren, seine Frau ein krankes Geschöpf. Der stille, kleine, hinkende Norton mit seinen Vögeln. Und selbst Poirot, der einstmals so sprühende Poirot, ein gebrochener, verkrüppelter alter Mann…
Wie anders war es damals gewesen – damals, als ich das erste Mal Styles besuchte. Der Gedanke daran war so überwältigend, dass ich einen unterdrückten Ausruf des Bedauerns ausstieß.
»Was haben Sie?«, fragte meine Begleiterin.
»Nichts. Ich war nur so betroffen über den Unterschied – wissen Sie, ich war vor vielen Jahren schon einmal hier, als junger Mann. Und ich dachte an den Unterschied zwischen damals und heute.«
»Ich verstehe. Dann war dies also ein glückliches Haus? Die Bewohner waren glücklich?«
Seltsam, wie die Gedanken manchmal kaleidoskopartig durcheinanderwirbeln. So erging es mir jetzt. Die Erinnerungen und Ereignisse verschoben sich auf verwirrende Weise. Dann ordnete sich das Mosaik zu seiner richtigen Form.
Mein Bedauern hatte der Vergangenheit als solcher gegolten und nicht den tatsächlichen Verhältnissen. Denn schon damals, in jener längst vergangenen Zeit, hatte es auf Styles kein Glück gegeben. Nüchtern erinnerte ich mich, wie es wirklich gewesen war: Mein Freund John und seine Frau waren gleichermaßen unglücklich und rieben sich auf in dem Leben, das sie führen mussten; Lawrence Cavendish litt unter Schwermut; Cynthia, deren, jungmädchenhafte Heiterkeit durch die abhängige Position, in der sie sich befand, erdrückt wurde; Inglethorp, der um des Geldes willen eine reiche Frau geheiratet hatte… Nein, keiner von ihnen war glücklich gewesen. Und auch jetzt war keiner hier glücklich. Styles war kein Glück bringendes Haus.
»Ich habe mich von falscher Sentimentalität leiten lassen«, sagte ich zu Miss Cole. »Dies war nie ein glückliches Haus und ist es jetzt auch nicht. Jeder hier ist unglücklich.«
»Nein, nein, Ihre Tochter – «
»Judith ist nicht glücklich«, stellte ich mit plötzlicher Gewissheit fest. Nein, Judith war es nicht. »Vielleicht Boyd Carrington«, fuhr ich zweifelnd fort. »Er hat neulich zwar gesagt, dass er einsam ist – aber ich glaube, er fühlt sich ganz wohl in seiner Haut – mit seinem Haus und allem.«
»Bei Sir William ist es etwas ganz anderes«, sagte Miss Cole scharf. »Er gehört nicht hierher wie wir andern. Er gehört zu der Welt da draußen – der Welt des Erfolgs und der Unabhängigkeit. Sein Leben war sehr erfolgreich, und er ist sich dessen bewusst. Er gehört nicht zu den – zu den Verkrüppelten.«
Eigenartig, dass sie diesen Ausdruck gewählt hatte. Ich sah sie eindringlich an. »Können Sie mir erklären, warum Sie gerade dieses Wort benutzt haben?«, fragte ich.
»Weil es zutrifft«, antwortete sie mit plötzlicher Entschlossenheit. »Auf mich jedenfalls. Ich bin verkrüppelt!«
»Sie müssen sehr unglücklich gewesen sein«, sagte ich mitfühlend.
»Sie wissen nicht, wer ich bin, oder?«, fragte sie ruhig.
»Nun – ich weiß, wie Sie heißen – «
»Cole ist nicht mein richtiger Name – es war der Name meiner Mutter. Ich nahm ihn – hinterher an.«
»Hinterher?«
»Mein richtiger Name ist Litchfield.«
Zuerst begriff ich nicht – der Name kam mir nur irgendwie vertraut vor. Dann erinnerte ich mich.
»Matthew Litchfield!«
Sie nickte. »Sie haben also davon gehört. Das war es, was ich eben gemeint habe. Mein Vater war krank und ein Tyrann. Wir durften kein normales Leben führen. Wir durften keine Freunde einladen. Er gab uns kein Geld. Wir lebten – wie im Gefängnis.« Sie hielt inne und sah mich mit ihren schönen Augen an. Die Pupillen waren groß und schwarz. »Und dann hat meine Schwester – meine Schwester – « Sie schwieg.
»Bitte, reden Sie nicht weiter! Es ist zu schmerzlich für Sie. Ich weiß Bescheid. Sie brauchen es mir nicht zu erzählen.«
»Aber nein, Sie können nichts wissen! Dass Maggie… Es ist fast unmöglich! Ich weiß, dass sie sich der Polizei gestellt und gestanden hat. Trotzdem kann ich es manchmal nicht glauben. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass es nicht wahr ist, dass es so, wie sie behauptet, nicht passiert ist – nicht passiert sein kann!«
»Sie meinen…« Ich zögerte. »Meinen Sie, dass die Fakten nicht zusammenpassten – «
»Nein, nein«, unterbrach sie mich. »Es handelt sich um Maggie selbst. Es passte nicht zu ihr! Es war nicht – Maggie war es nicht!«
Worte drängten sich mir
Weitere Kostenlose Bücher