Vorhang
hörte, wie ein Schlüssel umgedreht wurde.
»So, dabei bleibt’s!«
Diesmal war die Stimme des Colonels deutlicher zu vernehmen. »Du gehst zu weit, Daisy! Das lasse ich mir nicht gefallen!«
»So – das lässt du dir nicht gefallen? Und wer glaubst du denn, dass du bist? Wer führt hier dieses Haus? Ich! Vergiss das ja nicht!«
Ein Vorhang wurde beiseitegeschoben, Mrs Luttrell verließ offenbar den Raum.
Es dauerte einige Minuten, bis der Colonel auftauchte. Er schien in der kurzen Zeit wesentlich gealtert zu sein.
Unter uns war keiner, der nicht mit dem Colonel gefühlt und Mrs Luttrell am liebsten umgebracht hätte.
»Es tut mir schrecklich leid«, sagte er mit gepresster und unnatürlich klingender Stimme. »Der Whisky ist anscheinend alle.«
Es konnte ihm nicht entgangen sein, dass wir die ganze Szene mitangehört hatten. Schon unser Verhalten hätte es ihm verraten müssen. Wir fühlten uns alle äußerst unbehaglich, und Norton verlor völlig den Kopf und versicherte zunächst hastig, dass er eigentlich gar keinen Drink gewollt habe – so kurz vor dem Essen, nicht wahr? –, wechselte dann rasch das Thema und machte eine Reihe höchst unzusammenhängender Bemerkungen. Es war eine äußerst peinliche Situation. Ich fühlte mich wie gelähmt, und Boyd Carrington, der als Einziger imstande gewesen wäre, den richtigen Ton zu treffen, kam wegen des Geplappers von Norton nicht zum Zug.
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Mrs Luttrell mit Gartenhandschuhen und einem Löwenzahnstecher einen Gartenpfad hinunterging. Sie war gewiss eine tüchtige Frau, aber in diesem Moment hasste ich sie. Kein Mensch hat das Recht, einen anderen Menschen zu demütigen.
Norton redete noch immer mit fieberhaftem Eifer. Er hatte eine Ringeltaube hochgehoben und erzählte, wie er in der Schule ausgelacht worden sei, weil ihm beim Anblick eines geschossenen Kaninchens schlecht geworden war. Dann kam er auf Schneehühner zu sprechen und verbreitete sich in einer langatmigen und ziemlich pointenlosen Geschichte über einen Unfall in Schottland, bei dem ein Treiber erschossen worden war. Wir sprachen über verschiedene Jagdunfälle, von denen wir gehört hatten, und schließlich räusperte sich Boyd Carrington und begann:
»Da ist einmal eine komische Sache passiert mit einem Offiziersburschen von mir. Er war Ire. Er hatte Urlaub und fuhr nach Irland. Nach seiner Rückkehr fragte ich ihn, ob es schön gewesen sei.
›Gewiss, euer Ehren, das war der schönste Urlaub in meinem ganzen Leben.‹
›Das freut mich‹, sagte ich, wobei ich mich über seine Begeisterung ein wenig wunderte.
›O ja, gewiss, es war ein großartiger Urlaub! Ich habe meinen Bruder erschossen.‹
›Deinen Bruder erschossen!‹, rief ich aus.
›O ja, gewiss. Das hatte ich schon seit Jahren vor. Und jetzt saß ich da auf einem Dach in Dublin, und wer kam die Straße herauf? Kein anderer als mein Bruder. Und ich mit einem Gewehr in der Hand! Es war ein Meisterschuss, das können Sie mir glauben. Ein glatter Treffer. Mann, das war ein schöner Augenblick, den werde ich nie vergessen!‹«
Boyd Carrington war ein guter Erzähler, der eine Geschichte mit der richtigen Betonung vorzutragen wusste, und wir lachten alle und fühlten uns wohler. Als er aufstand und sich mit der Bemerkung, er müsse vor dem Essen noch ein Bad nehmen, entfernte, drückte Norton unser aller Gefühle aus, indem er begeistert sagte: »Was für ein großartiger Bursche!«
Ich stimmte ihm zu, und Luttrell meinte: »Ja, ein feiner Kerl.«
»Soweit ich weiß, hat er immer Erfolg gehabt«, fuhr Norton fort. »Alles, was er anpackte, ist ihm gelungen. Klarer Verstand, weiß, was er will – ein richtiger Mann der Tat. Ein Erfolgsmensch, wie er im Buche steht.«
»Solche Männer gibt es«, sagte Luttrell nachdenklich.
»Alles, was sie anpacken, gelingt ihnen. Sie können nichts falsch machen. Manche Leute haben das Glück für sich gepachtet.«
Norton schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das hat nichts mit Glück zu tun.« Er zitierte bedeutungsvoll: »›Nicht durch die Schuld der Sterne, lieber Brutus, durch eigene Schuld nur sind wir Schwächlinge!‹«
»Vielleicht haben Sie recht«, meinte Luttrell.
Ich sagte rasch: »Er hat zumindest das Glück gehabt, Knatton zu erben. Was für ein herrlicher Besitz! Aber er sollte wirklich heiraten. Ganz allein wird er sich dort sehr einsam fühlen.«
Norton lachte. »Heiraten und sich zur Ruhe setzen? Und wenn ihn seine Frau tyrannisiert
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