Vorhofflimmern
Weil ich so schnell
wie möglich Geld verdienen musste, war an das Abitur gar nicht mehr zu denken,
darum habe ich die Ausbildung zur Krankenschwester angefangen. Erst ein halbes
Jahr später, als mein Leben wieder in einigermaßen geregelten Bahnen lief, habe
ich mich dann getraut, meine Mutter anzurufen und ihr alles zu beichten.“ Ich
schnaufte schwer. „Ja, so war das mit meinem verkorksten Leben.“
Desiderio hatte die ganze Zeit über schweigend zugehört und
brauchte wohl einen kleinen Moment, um die ganzen Informationen zu verdauen.
Ich gab ihm die Zeit, schließlich hatte ich selbst mehrere Jahre gebraucht, um
die Geschichte einigermaßen zu überwinden.
„Meine Güte, du hast innerhalb von einem halben Jahr mehr
erlebt, als so mancher 80jähriger“, kommentierte er schließlich.
„Tja.“
„Und dieser Arsch ist schuld, dass du nicht Medizin studiert
hast?“
„Leider.“
„Mann.“ Desiderio ballte wütend eine Faust. „So ein Mistkerl.
Dem würde ich am liebsten eine Abreibung verpassen.“
Obwohl ich seine Wut irgendwie niedlich fand, legte ich
beruhigend meine Hand auf seine Faust. „Keine Sorge, er hat gebüßt. Glaub mir.“
Ein wenig erschrocken sah er mich an. „Wie meinst du das?“
„Ach, irgendwer hat dem Herrn Geinburg das Finanzamt auf den
Hals gehetzt und er musste geschlagene zwei Jahre wegen Steuerhinterziehung ins
Gefängnis“, erklärte ich unschuldig.
„Wow, das ist… krass. Aber er hat es wirklich verdient.“ Er
überlegte kurz. „Geinburg, Geinburg… etwa van Geinburg?“
„Ja?“
„Wirklich? Mein Gott, von dem Kerl habe ich sogar ein Bild!“
„Was? Bist du dir da sicher?“ Ich rückte ein wenig von ihm ab
und sah ihn erstaunt an.
„Ja, ganz sicher! Ich liebe dieses Bild – nichts für ungut,
aber er ist tatsächlich ein begnadeter Maler.“
Ich seufzte schwer. „Oh ja…“
„Es ist eine Kohlezeichnung“, erklärte Desiderio. „Also,
leider nicht das Original, aber es ist trotzdem wunderschön. Ich glaube es
heißt: Die Frau am Fenster.“
Der kleine Ast in meiner Hand zerbrach. „Wie bitte?“
„Die Frau am Fenster. Doch, so heißt es. Ergibt auch einen
Sinn, weil es nämlich eine nackte Frau zeigt, die nachdenklich aus dem Fenster
sieht.“ Desiderio hatte inzwischen seine Faust geöffnet und spielte verträumt
mit meinen Fingern. „Immer wenn ich dieses Bild ansehe, frage ich mich, was sie
wohl gerade denkt, während sie in die Welt hinaus blickt.“
Deutlich sah ich die Aktzeichnung vor mir. Ja, ich kannte
dieses Bild. Im Vordergrund stand eine junge Frau vor einem hohen, geöffneten
Fenster. Die durchscheinenden Vorhänge wehten hinein und verhüllten einen Teil
ihres nackten Körpers. Eine Hand ruhte auf dem Fensterrahmen, während die
andere die wehenden Vorhänge beiseite hielt, um freie Sicht auf eine
verschwommen dargestellte Landschaft zu erhalten.
Ja, ich kannte dieses Bild sehr gut.
„In diesem Moment habe ich mich gefragt, was ich gerade
machen würde, wenn ich in Deutschland geblieben wäre“, sagte ich und lächelte
Desiderio schief an.
Er brauchte einen Augenblick, um meine Aussage zu verstehen.
„Das vor dem Fenster bist du?“, fragte er dann begeistert.
„Wahnsinn.“
„Wirklich erstaunlich. Zufälle gibt´s…“
„Ja, Zufälle“, wiederholte er langsam und beobachtete
gedankenverloren, wie seine eigenen Finger unsichtbare Linien auf meinen
Handrücken malten.
„Oh mein Gott!“, rief ich in gespieltem Entsetzen. „Das
bedeutet ja, dass du mich schon nackt gesehen hast!“
Schon wieder, musste man eigentlich sagen, wenn man die
damalige Schockszene in meinem Badezimmer mit einbezog.
„Hm, ich wusste doch gleich, dass mir dein Hintern irgendwie
bekannt vorkommt“, meinte er lässig. „Ein hübscher Hintern, wohlgemerkt.“
Ja, da war er wieder. Der selbstbewusste Italiener, mit dem
verschmitzten Grinsen. Und sofort schaffte er es, mir die Röte in die Wangen zu
treiben!
„Ach, da war ich noch um ein paar Jahre jünger“, winkte ich
einigermaßen verlegen ab.
„Also auf den ersten Blick habe ich da aber keinen
Unterschied bemerkt.“ Er neigte sich nach hinten und lugte nach unten. „Und auf
den zweiten auch nicht. Obwohl man das in Jeans natürlich nicht so sehr
beurteilen kann.“
Ich boxte ihn strafend auf die Schulter. „Bitte sag mit jetzt
nicht, dass mein Bild über deinem Bett hängt.“
„Ähm, nein. Es thront sozusagen als Highlight über dem Kamin
im Esszimmer. Aber du bringst
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