Vorkosigan 13 Komarr
ihren Plan, höflich zu sein, wieder fallen zu lassen und in die Wohnung zurückzukehren, doch der Gedanke, dass sie dann weitere dreißig Minuten im Stau hängen würde, brachte sie davon ab. Der Leichtflieger, den man ihr vermietete, war nicht mehr neu und nicht sehr sauber. Als sie schließlich allein durch das riesige Schweigen der komarranischen Nacht flog, beruhigten sich ihre Gefühle ein wenig, und sie spielte mit der Vorstellung, anderswohin zu fliegen, irgendwohin, einfach um dieses himmlische Alleinsein auszudehnen. Es mochte noch mehr an Vergnügen geben als nur die Abwesenheit von Schmerz, aber im Augenblick konnte sie das nicht beweisen. Die Abwesenheit von
Schmerz, von anderen Menschen und ihren Bedürfnissen, die auf sie eindrangen, erschien schon paradiesisch genug.
Ein Paradies knapp außer Reichweite.
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Außerdem gab es für sie kein anderswo. Sie konnte nicht einmal mit Nikki nach Barrayar zurückkehren, ohne zuerst genügend Geld für ihren Flug zu verdienen oder sich das Geld von ihrem Vater oder ihren fernen Brüdern zu leihen, oder von Onkel Vorthys. Ein unangenehmer Gedanke. Was du empfindest, zählt nicht, Mädel, sagte sie sich.
Es geht um die Ziele. Du wirst alles tun, was du tun musst.
Ein Glühen am Horizont – die hellen Lichter der
Versuchsstation, die isoliert in dieser öden Wildnis lag –
zog den Blick schon aus der Ferne an. Sie folgte dem schwarz-seidigen Schimmer des Flusses, der sich an der Anlage vorüberschlängelte. Als sie näher kam, entdeckte sie einige Fahrzeuge auf dem Parkplatz der Station und runzelte verärgert die Stirn. Foscol hatte gelogen, als sie sagte, es sei niemand mehr an der Station, der Tien mitnehmen könnte. Andrerseits eröffnete dies die Möglichkeit, dass Ekaterin vielleicht mit jemand anderem nach Serifosa zurückfliegen könnte … Sie unterdrückte den Impuls, mitten im Flug kehrtzumachen und landete stattdessen auf dem Parkplatz.
Sie schob ihre Sauerstoffmaske zurecht, öffnete das Verdeck und ging zum Bürogebäude, wobei sie hoffte, einen Rückflug ausmachen zu können, bevor sie Tien
begegnete. Als sie das Steuerfeld berührte, öffnete sich die Luftschleuse. Es gab kaum einen Grund, weshalb man hier draußen etwas versperrt lassen sollte. Sie bog in den ersten gut beleuchteten Korridor ein und rief: »Hallo!«
Niemand antwortete. Es schien niemand da zu sein.
Etwa die Hälfte der Zimmer war kahl und leer; die übrigen kamen ihr ziemlich schlampig und unordentlich vor. Eine 275
KomKonsole war geöffnet, ihre Innenteile herausgerissen
… genau genommen geschmolzen. Das musste eine
spektakuläre Störung gewesen sein. Ihre Schritte erzeugten ein hohles Echo, als sie durch die Fußgängeröhre in das Maschinengebäude hinüberging. »Hallo? Tien?« Auch hier antwortete niemand. Die beiden großen Versammlungsräume waren dunkel und leer. »Ist da jemand?« Wenn Foscol doch nicht gelogen hatte, warum standen dann all die Luftwagen und Flieger auf dem Parkplatz? Wohin
waren ihre Besitzer verschwunden – und worin?
Er wartet auf Sie außerhalb der nordwestlichen Seite…
Sie hatte nur eine vage Vorstellung, welche Seite des Gebäudes nach Nordwesten lag; sie hatte halb erwartet, Tien würde auf dem Parkplatz auf sie warten. Sie seufzte unbehaglich, schob wieder ihre Sauerstoffmaske zurecht und trat durch die Fußgängerschleuse nach draußen. Es würde nur ein paar Minuten dauern, um das Gebäude
herumzugehen. Ich möchte auf der Stelle nach Serifosa zurückfliegen. Das ist doch verrückt hier. Langsam umrundete sie das Gebäude zu ihrer Linken. In der Kälte und der toxischen Nachtluft klangen ihre Schritte auf dem Beton hart und laut. Ein erhöhter Gehweg, bei dem es sich in Wirklichkeit um den horizontalen Rand des Fundaments des Gebäudes handelte, lief an der Mauer entlang, begleitet von einem Geländer auf der Außenseite, wo der Boden absank. Ekaterin hatte ein Gefühl, als triebe man sie in eine Falle oder einen Pferch. Sie bog um die zweite Ecke.
Auf halber Länge des Gehwegs war eine kleine menschliche Gestalt auf den Knien zusammengekauert, hatte die Arme ausgestreckt und die Stirn gegen das Geländer
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gepresst. Eine größere Gestalt hing an den Handgelenken zwischen zwei weit auseinander stehenden Pfosten; der Körper baumelte über den Rand des erhöhten Betonfundaments hinaus, die Füße waren einen halben Meter vom Boden entfernt. Was ist da los? Die Dunkelheit schien zu pulsieren. Ekaterin schluckte ihre
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