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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
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weil man damit manchmal das Verliebtsein mit hinausschrieb, aber so war es.
    Die Mutter legte ihr Informationsblätter einer Universität auf den Tisch, und Marlene schrieb sich an einer anderen für das Fach Biologie ein. Sie zog in eine Wohnung weit am Rand der neuen Stadt, wo außer ihr nur noch Arbeiterfamilien mit schmutzigen kleinen Kindern wohnten, die im Treppenhaus spielten, auch wenn draußen die Sonne schien. Die Trennung von der Mutter fiel Marlene leicht, sie ließ sich aber nichts anmerken, alle drei Wochen stieg sie in den Zug und besuchte die Mutter, brachte von der Bäckerei am Bahnhof Kuchen mit, und dann ließen sie den ganzen Sonntagnachmittag mit dem Auf- und Abdecken des Kaffeetischs vergehen, so kam es Marlene vor. Beide Frauen versteckten sich hinter dem Auffüllen der Zuckerdose, dem Zählen der restlichen Teelichte und sprangen alle paar Minuten auf, um die Gardinen zu sortieren. Die Mutter sprach währenddessen viel über Ärzte. Was sie vom Leben ihrer Tochter wissen wollte, beantwortete sie sich im gleichen Atemzug selbst, und so kam es, dass Marlene niemandem von ihrem Studium erzählte und niemand Genaueres von der kleinen Wohnung wusste, für die sie mit ihrer Halbwaisenrente Bett, Tisch und zwei Stühle gekauft hatte. Sie war in dieser Zeit nicht eigentlich unglücklich, es war nur so, dass ihr alles andere noch fremder war.
    Das Studium lag ihr, wie man so sagte. Sie fand die Seminaraufgaben verblüffend einfach, und die Referate, vor denen sie anfangs wieder viel gezupft hatte, brachte sie nach einem Jahr mit der gleichen Strenge hinter sich, mit der sie auch ihren Waschzwang mittlerweile kontrollierte. Sie hatte einen Büchereiausweis, und an den Wochenenden lag sie in ihrem Bett und las einfache Bücher, die von Frauen in London oder New York handelten und deren Leben sich ausschließlich um die Suche nach einem Mr. Right, den Abgleich mit Freundinnen, überraschenden Sex und Einkaufen drehte. Es gab sehr viele dieser Bücher, was Marlene als großes Glück empfand. Sie identifizierte sich mit keiner der Frauen aus diesen Geschichten, aber sie identifizierte sich mit der Zahl der Druckauflage, die gelegentlich auf dem Deckblatt stand. Unter den zweihunderttausend, die das Buch gekauft hatten, musste es statistisch eine ganze Menge Frauen geben, die genauso waren wie sie, und das genügte Marlene als Gesellschaft.
    Im zweiten Jahr an der Universität nahm sie an einem Sportkurs teil, in dem abends abwechselnd Volleyball und Handball gespielt wurde. Beim Handball stand sie im Tor, weil sich dafür niemand gefunden hatte. Sie genoss die Angst, wenn der Angriff der gegnerischen Mannschaft auf sie einstürmte, und erschrak vor der Entschlossenheit, mit der die anderen sich in ihren Torraum warfen. Steif stellte sie sich gegen die Bälle und erwartete schon ungeduldig den Moment, wenn sie in ihrem kleinen Bad die blauen Flecke betrachten konnte. Probleme bereitete es ihr, den Ball wieder ins Spiel zu bringen, wem immer sie ihn zuwarf, schien gerade nicht damit gerechnet zu haben. Bald ging sie nur noch zu den Handballtagen, Volleyball ließ sie aus. Nach den Spielen wurde geduscht, aber Marlene beließ es dabei, sich die Hände sehr heiß zu waschen, und da sie nur Torwart war, wurde das von den anderen als hinreichend genommen. Was sie in der Dusche sah, fand sie unerheblich, bloß manchmal träumte sie seither, sie wäre die einzige Nackte und alle anderen würden sich nur die Hände waschen. Nach dem Sport ging man in großer Runde noch in eine der Kneipen, die ganze Altstadt war voller Studentenkneipen, und sie wäre mitgegangen, wenn nicht der letzte Bus in ihre Siedlung schon um zehn Uhr gefahren wäre. Sie kannte das schon, es war immer ihr Bus, der fuhr, immer ihr Hinterkopf, den der Schneeball traf, immer ihr Name, der doch nicht auf der Liste war.
    Zur Weihnachtsfeier bot ihr ein Mädchen an, in seiner Wohngemeinschaft zu übernachten, und Marlene stimmte zu. Sie trank Rotwein, den sie nicht gewöhnt war, und stellte kurz danach fest, dass sie in den Trainer des Sportkurses verliebt war, und noch etwas später und mit der Routine, die sie aus ihrer Wochenendelektüre hatte, dass es eine unglückliche Liebe war, denn der Trainer war mit einem Mädchen zusammen, das eine Haut in der Farbe von Zimtstangen hatte. Zimthaut war etwas, vor dem Marlene bereitwillig kapitulierte. Diese Nacht auf dem Sofa in der unübersichtlich großen Wohngemeinschaft verbrachte sie nicht mit Schlaf,

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