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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
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sondern mit der wichtigen Erkenntnis, dass nicht zwingend für jeden Menschen etwas vorgesehen ist. Von da an fiel ihr das Leben etwas leichter, und sie ging nicht mehr zum Sport.
    Im dritten Jahr an der Universität begann Marlene eine Affäre mit einem Mann aus ihrem Wohnhaus, einem schmalen, dunklen Vorarbeiter, der im Erdgeschoss wohnte und eine Frau und zwei Kinder hatte. Er hatte sie schon eine ganze Weile im Treppenhaus sehr nett gegrüßt und war mehrmals vor ihrer Tür gestanden, um sie über nebensächliche Hausangelegenheiten zu informieren. Marlene fand dieses Verhalten aufdringlich, wusste aber kein Gegenmittel, und die Tür nicht zu öffnen wäre ihr zu unhöflich vorgekommen. Eines Abends brachte er Blumen und eine Flasche Wein und flüsterte im Hausflur davon, wie oft er an sie denken müsse. Das war doch aber erstaunlich, dachte Marlene, ließ ihn herein, und es kam zu einer Küsserei im Gang. Mit ihm zu schlafen war ihr nicht unangenehm, sie konnte nach dem ersten Mal nur kaum das Lachen zurückhalten. Wegen dieser Sache machte man so einen Aufruhr? War es nicht einfach zu komisch, das eindeutige Streicheln, die oberflächlichen Erregungszustände, das verbissene Theater mit den Geräuschen und Beschwörungen, dann der stillschweigende Ablauf, die Ernsthaftigkeit des Mannes, das Gluckern der Mägen, sah denn niemand, wie albern das alles war?
    Robert kam sonntags, wenn er wusste, dass sie daheim war, und blieb ein oder zwei Stunden, rauchte hinterher auf ihrem Bett, sie saß dann auf einem Stuhl und sah in den Hof, wo Teppiche über einer Stange ausgeklopft wurden, mit einem schönen, dunklen Poff, wenn der Teppichklopfer in die weichen Falten traf. Robert sprach davon, seine Frau zu verlassen und mit Marlene umzuziehen, eine neue Stelle hatte er schon, und ein Motorrad. Sie gab nicht viel darauf, aber als er an einem Freitag im September in seinem Lederanzug vor der Tür stand, um ihr die neue Wohnung zu zeigen, nahm sie vorsichtshalber ein paar Sachen mit. Die Wohnung lag nicht, wie er gesagt hatte, in der nächstgrößeren Stadt, sondern in einem kleinen Ort davor, den ihr Robert wegen der nahen Autobahnauffahrt für eigentlich ebenso gut erklärte. Erst später kam sie dahinter, dass das kleine Haus einem Onkel von Robert gehörte.
    Bis sie ihre Diplomarbeit abgegeben hatte, blieb sie noch in ihrer alten Wohnung, dann zog sie zu dem Mann, von dem sie mittlerweile annahm, er wäre das Einzige, was ihr passieren würde. Das Haus hatte einen Garten mit gelben Grasnarben und eine Garage. Alle Fenster hatten schmutzweiße Jalousien, die Robert immer nur halb öffnete, sodass Marlene das Gefühl ständiger Dämmerung hatte. Wenn er da war, durfte sie nicht lesend im Bett liegen, auch wenn ihr unklar war, was er stattdessen von ihr erwartete. Manchmal nahm er sie auf dem Motorrad mit, was sich bedrohlich anfühlte. Die Angst beim Beschleunigen erinnerte Marlene an die Schnelligkeit eines guten Handballangriffs, der ihr Tor zum Ziel hatte. Aber diese Ausfahrten hatten kein Ziel, irgendwann wendete Robert in einer Parkbucht, und sie fuhren wieder zurück. Sie machte ihren Führerschein in vier Wochen und ließ sich die Haare kurz schneiden, was dem Mann nicht besonders gefiel. Ihre Diplomarbeit war sehr gut. Robert musste oft auf Montage und war wochenlang weg, dann zog sie die Jalousien ganz auf und las wieder im Bett.
    Einmal in diesen langen Wochen stand Roberts Frau vor der Tür, und nach einem Moment des schieren Erkennens bat sie die Frau herein. Erst in deren schnellen, abschätzigen Blicken sah sie selbst auch die Schäbigkeit der Einrichtung, die halbleeren Kartons, um die sich niemand gekümmert hatte, den kahlen Kühlschrank und die Flecken im Bad. Roberts Frau hatte Papiere zu unterschreiben, Marlene sah nicht genau hin, im Auto warteten die Kinder. Nach diesem Besuch fing Marlene an, das Haus zu putzen, mit der gleichen Akribie, mit der sie bisher nur ihre Hände gescheuert hatte, scheuerte sie die Böden und Wände und kaufte einen Teppichklopfer. Sie ging auf den Markt, füllte die Tiefkühltruhe und kochte Gerichte, die ihre Mutter gekocht hatte, aus dem Gedächtnis nach, probierte und fror immer die Hälfte ein. Wenn Robert von den Baustellen zurückkam, war er wie ausgetrocknet, ein staubfremder Mann, er konnte kaum etwas sagen, nahm sie hoch und trug sie ins Bett, und danach schlief er zwei Tage. Über die Veränderungen im Haus verlor er kein Wort. Wenn sie sprachen, sprachen sie

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