Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
Vom Netzwerk:
vorstellte. Der Mann stand auf, knickte am rechten Fuß ein, schrie, fluchte und humpelte Richtung Haus. Ella hatte sich mit Max im Erdkeller verschanzt, die Alten lagen still in ihrer Kammer. Als Ludwig dazukam, stand der Engländer vor dem Podest der Stange, umrundete es, ohne den Kopf zu senken, den Blick am Stamm entlang. Er deutete nach oben, Ludwig sah dem Deuten nach, da war nur die leicht aus der Fassung geratene Stange, aber der Engländer war sehr aufgeregt, schrie und zeigte jetzt auch auf Ludwig, der kein Wort Englisch verstand. Als der Mann mit seinem Handballen mit Wucht gegen den Stamm schlug, begriff Ludwig in aller Eile, was geschehen war. Der Pilot hatte die Stange gestreift, ihre Pildauer Poln war dem Flieger zum Verhängnis geworden. Ludwig nickte und zeigte mit einem bedauernden Rund um sich. Das, wollte er sagen, ist nun mal Stangenland. Der Mann zeterte noch eine Weile, dann setzte er sich am Fuß des Podests in den Staub. Ludwig holte die anderen aus dem Erdkeller. Max war blass. Sie standen um den Mann, der mit einem gebrochenen Knöchel auf feindlichem Boden saß, dessen Flugzeug keine Flügel mehr hatte und der über einen dieser drei Umstände oder über alle still in die Armbeuge weinte.
     
    Sie wären den Mann bald los, da war Ludwig sicher, er würde bei der nächsten Gelegenheit das Weite suchen und den Krieg wieder mitnehmen. Aber Stuart blieb in Pildau. Als er sah, dass ihn hier niemand ausliefern wollte, schien ihm die Einöde mit dem Erdkeller und der Lage zwischen den Hügeln das Beste, was man hinter feindlichen Linien erwarten konnte. Anfangs ließen sie ihn in der Scheune schlafen, später bekam er eine Kammer im Haus, die gleiche, in der Ludwig in seinen ersten Wochen in Pildau geschlafen hatte. Auch er mied tags das freie Feld, schnitzte stattdessen ein Schachspiel in der Scheune und brachte Max englische Ausdrücke bei, indem er auf den entsprechenden Gegenstand deutete und das Wort dazu aussprach. Max wiederholte fleißig:
knee, shoe, cow, sugar beet
, und im Herbst konnte er schon ganz Pildau auf Englisch nennen, nur eben ohne Grammatik. Stuarts Bruch hatten sie fest gewickelt, und aus zwei starken Astgabeln waren Krücken geworden. Trotzdem half Stuart nachts mit, das Flugzeugwrack auseinanderzubauen, was Wochen in Anspruch nahm, in denen rings um sie die Rüben wuchsen. Die Teile sortierte Ludwig auseinander, jeden Bolzen säuberte er, jedes Stück Blech klopfte er in Form, der Motor war nahezu unversehrt geblieben. Es war eine feine Maschine der Firma Rolls Royce, zu gern wäre Ludwig an den Ort gereist, wo sie gebaut worden war.
    Stuart teilte nicht seine Begeisterung für die Einzelteile des Flugzeugs und war bald mit dem schlichten Essen, das Ella ihm hinstellte, nicht mehr zufrieden. Sobald er wieder etwas laufen konnte, stellte er am Wald Fallen auf und fing zwei Feldhasen, er streifte in den Nächten umher, während er die Tage im Schuppen verdöste. Eines Morgens kam er mit einem großen Karpfen an. »Ha«, machte Ella, als er den Fisch auf den Küchentisch legte, und dieses »Ha« galt Ludwig. Er musste zugeben, dass Stuart über Talente zu verfügen schien, die ihm ganz fremd waren, genau wie seine Neigung zum Rauchen. Denn die meiste Zeit war Stuart damit beschäftigt, Zigarettenersatz zu finden. Er rauchte gebröselte Birkenrinde und drehte Zigarren aus trockenem Kartoffellaub, erfand einen Wiesentabak aus Thymian, Spitzwegerich und Löwenzahn und lag nicht selten nach diesen Experimenten kotzend am Weiher oder wand sich auf ihrem kleinen Grubenhäusl vor Krämpfen. Die besten Ergebnisse erzielte er mit einem Tabak aus getrocknetem und gestoßenem Mangoldlaub, dessen Rauch Ludwig an die Kirche erinnerte und den Tag, als seine Mutter begraben wurde. Ludwig probierte es auch, in einer alten Pfeife, gar nicht übel. Aber bei Nacht zu einem der alten Karpfenweiher jenseits der Straße zu wandern und Fische zu wildern hieß für ihn lediglich, mehr Gefahr einzugehen, als irgendwie zu berechnen gewesen wäre, und er war noch nicht mal Angehöriger feindlicher Truppen. Sie hatten Stuart zwar ein paar Kleidungsstücke des Bauern gegeben, in denen er noch dünner aussah und wie ein Knecht aus anderer Zeit, aber sobald er den Mund aufmachte, und schon vorher, war er verdächtig als junger Mann, der nachts aufgegriffen wurde.
    Ludwig also ging nicht zu den Karpfen. Er hoffte, Ellas Hunger nach dem Unerfüllbaren würde sich legen, und schlief in seiner einsamen Kammer,

Weitere Kostenlose Bücher