Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
ging noch nicht aufs Feld, versuchte, immer in der Deckung des Hauses zu sein. Mit Max erntete er die Himbeeren und den Holunder auf der Ruine des Pfänderhofs, er wusch die Alten, als wären es seine Eltern, die Bäuerin hatte ein offenes Bein, und sie konnten nichts dagegen tun als Wickel mit Kräutersud, die er ein ums andere Mal auskochte und neu bestrich. Ludwig schlief jetzt wieder in ihrer Kammer, aber auch dort fand er die Dinge verändert. Ella hielt sein Schnaufen nicht mehr aus, das hätte er sich in der Höhle angewöhnt, sagte sie, außerdem rieche er nach Grab, sie grause sich davor. Ruhig hörte er sich die Vorwürfe an und ging dem Klang dieser Worte nach. Nie war so ein Ton zwischen ihnen gewesen, ihre Frequenz war neu, die Spaltmaße der Silben größer. Er zog hinunter in Ellas alte Kammer und ließ sie.
Seit fast zwei Jahren war er nicht mehr im Dorf gewesen, als die Rübenernte anstand. Ella zog tagsüber, er nachts. Nach einer Woche hatten sie in der Hofmitte einen Rübenberg, aber die Zuckerfabrik gab es nicht mehr, oder sie wollte ihnen nicht antworten, deswegen fingen sie an, selbst Tonne für Tonne die Rüben zu zerkleinern, aufzukochen und den Brei fingerdick im Schuppen auf ausgelegte Bretter zu streichen. Den halben Winter arbeiteten sie so, es war ihr Zuckerwinter ohne jeden Schnee, aber sie sprachen wenig. Zum Jahreswechsel hatten sie fast zwei Dutzend Säcke Zuckerbruch aus ihren Rüben, für die Ludwig einen dichten Holzverschlag zimmerte, um sie vor Mäusen zu schützen. Ihr Zucker war ein trüber Gries, den sie fortan über alles gaben, er hatte einen süßmalzigen Geschmack. Ludwig buk Brot aus Kartoffelschalen und Zucker, machte aus dem Mangold damit einen kräftigen Sirup, er rührte jeden Tag Brei und erfand haltbare kleine Süßfladen, die er in dem Erdkeller lagerte, ohne genau zu wissen, wofür.
Aber die Luftangriffe auf die Stadt hatten begonnen, und Pildau lag am Rand der Abflugschneise. Sehr tief flogen die Verbände, wie dunkle Hummeln, nur nicht so nervös, und die Hofstange vibrierte bis in den Schaft unter den Motoren. Der Erdkeller war ihr einziger Schutz, obwohl Ludwig zweifelte, dass er einen Bombentreffer aushalten würde. Sicherlich würden die Flugzeuge nicht auf das Dorf zielen, aber man sprach von Flugzeugen, die vor dem Rückflug Ballast abließen und restliche Bomben irgendwo streuten. Konnte das sein? War das nicht unwirtschaftlich? Mussten sie bei jedem Brummen in den Keller, und wie sollte das gehen mit den Alten, die kaum mehr als ein paar Schritte schafften? Es war so vieles, das er nicht genau wusste, und wenn er später an die Kriegszeit zurückdachte, so war das eigentlich das Schlimmste gewesen. Die endlose Reihe von Fragen und Gerüchten, für die keine genaue Erklärung verfügbar war, Fakten, die man nicht herleiten konnte, und dieses quälende Ungefähre. Es war stets angeführt von der wichtigsten Frage: warum?, und abgeschlossen von der zweitwichtigsten Frage: wie lange noch? Er sah das Kind Max. Wie konnte ein kleiner Mensch nicht an diesen Fragezeichen zerbrechen? Und das war schon wieder eines.
Um sich abzulenken, ging er mit Max in den Schuppen und zeigte ihm das Modell seiner Schwalbe, das lange Jahre unter einem schweren Leintuch gestanden hatte. Sein Doppeldecker war nicht ganz fertig, und zusammen mit dem Bub ging er nun daran, die Tragflächen abzuspannen und einen Propeller aus dickem Blech zu schneiden. Max saß jeden Abend dabei und begutachtete die Fortschritte, er war aufmerksam und begriff schnell, was der nächste Schritt sein musste, aber sobald er selbst sägen oder zuschneiden sollte, stellte der Junge sich ungeschickt an. Als über dem Eis auf dem Dorfweiher schon wieder Tauwasser stand, war die Schwalbe fertig, sie hatte einen kleinen Sitz, den Ludwig über alten Sesselfedern bezogen hatte, und in der Schnauze zwei Holzpedale, mit denen Max ein kleines Zahnrad und den Propeller andrehen konnte. Weil sie keine Farbe hatten, sammelten sie Veilchen, die am Waldrand gerade in großen, blauen Kissen blühten. Einen Strauß stellte Ludwig für Ella in die Küche, den Rest kochten sie zu einem Blausud und strichen damit das kleine Flugzeug, während in der Ferne immer neue, immer echte Flugzeuge ihre Spur in den Himmel zogen.
Die Nacht, in der der Krieg in Pildau ankam, war der Sonntag vor Ostern. Ludwig schlief in der Kammer neben der Küche und erwachte von einem Stoß, der gleichzeitig aus der Erde und vom Himmel zu
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