Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
Vom Netzwerk:
Feldern. In Vollmondnächten konnte er nachts auch arbeiten, er gewöhnte sich an die Dunkelheit und ließ seine Hände das meiste allein finden. So bestellte er den Gemüsegarten, zupfte Unkraut und ließ den anderen morgens einen Erntekorb vor der Tür.
    Dieser Krieg war anders, näher, das hörten sie. Von der Straße her spürte Ludwig nachts bis in seinen Erdkeller das stumpfe Rollen der Kolonnen, die fast ohne Licht nach Osten krochen. Er ging dann an den Waldrand, lag in einem Unterstand, getarnt mit Ästen und Erde, und sah von dort in klaren Nächten sogar das Glimmen der Zigaretten und in der kurzen Glut die Gesichter der Soldaten. Woher nur in den wenigen Jahren, in denen er kaum drei ausreichende Rübenernten geschafft hatte, keine fliegende Schwalbe, keinen eigenen Sohn und keinen rechten Beruf, woher nur diese enorme Armee kam, das konnte er sich beim besten Willen nicht erklären, aber sie waren ja da und ließen einen Geruch nach kalter Eile und Schmieröl zurück.
    Mit dem Winterdunkel wurden ihm die Tage unendlich in seiner Höhle. Er hatte einen dünnen Kaminschacht gegraben, in dem er Feuer machen konnte, sobald es Nacht wurde, der Schlot ging oben unter einer Wurzel hinaus, der Rauch sah aus wie Bodennebel am Waldrand. Eines Nachts holte er sich aus dem Haus seine Hefte und Papiere und begann im Schein der Öllampe zu zeichnen. Es müsste eine Maschine geben, nach dem Krieg, mit der sich die Rüben leichter ernten ließen, eine, die sammelte, schnitt, wusch und die Rüben vielleicht gleich bis zum Bahnhof fahren konnte. Die begann er nun zu denken, dann zu zeichnen, wobei ihm seine Studien aus der Stadt recht hilfreich waren. Er verbaute die unterschiedlichsten Teile, die er woanders gesehen hatte, zerlegte sie auf dem Papier alle paar Nächte wieder und kam insgesamt nur sehr langsam voran, aber das war ihm recht. Er verschlief die Tage und durchwachte die Nächte, als Einziger, wie es ihm vorkam, im weiten Rund. Seine Haare wurden hell, dann weiß unter der Erde. Der Bub Max wuchs schnell, schon fast zehn war er und lief im nächsten Frühling abends allein mit einem Weidenkorb durch das hohe Gras zur Tür des Erdkellers, zischte ganz hoch und leise das Wort Papa und ging wieder, wie sie es ihm beigebracht hatten. Ludwig schmerzte das sehr, aber er legte immer etwas für ihn hin, ein Pfeifchen, das er geschnitzt hatte, oder nur einen besonderen Stein, und hörte genau, wie der Junge noch eine kleine Weile stehen blieb, das Gefundene in den Händen drehte und dabei in seiner Freude und Trauer furchtbar leise war.
    Es war das zweite Jahr im Erdkeller, als Ella seltener kam. Wenn Ludwig zum Haus ging – die Wege kannte er mittlerweile auch bei dunkelster Nacht –, schlief sie bereits oder war unwirsch und machte ihm Vorwürfe. Kein Geld wäre da und er keine Hilfe, sie nähe für das Kind, versorge die Alten, halte den ganzen Hof zusammen, während er in seiner Höhle schlafe. Ein paar Mal ging das so. Ludwig gab das Zeichnen auf, dämmerte kraftlos vor sich hin. Einmal suchte er die ganze Nacht etwas Besonderes für Max und fand nichts mehr. Als er so, mit leeren Händen, nicht schlafen konnte, fuhr alles dunkel in ihn. Was war das? Nur 271  Schritte waren es zum Haus, und doch kam es ihm vor, als wäre er jede Nacht eine Meile weiter entfernt. Er dachte an alle, doch niemand dachte mehr an ihn hier draußen. Lieber erwischt werden, als so zu überleben. Und wovor fürchtete er sich, welchem Schaltplan eigentlich folgte seine Angst? Dass sie ihn wegen seines Namens abholten? Oder war er schon ein Deserteur? Aber war je Musterung an ihn ergangen? Ella hatte ein Schild gesehen, im Dorf, und darauf:
Wer mit Ziviltrecks zieht oder sich in Privatquartieren herumdrückt, gilt als fahnenflüchtig.
So galt es also jetzt. Aber galt es auch ihm?
    Es gab solche Ziviltrecks, sie kamen auf der Straße von Osten her und stanken hundertfach nach Verzweiflung, es war der Atem, der sich aus geschlucktem Schrei und Hunger mischte. Diese Züge machten Ludwig Honigbrod ebenso Angst wie die Soldaten, eines Tages würden diese oder jene über den Hügel und durch den Wald nach Pildau kommen und das Wenige, was sie hatten, schnell zerstreuen in ihrer heiligen Wut. Aber die ertrugen es auch, dachte er, alle trugen es.
    So gab er nach dieser Nacht seine Vorsicht schließlich etwas hin, war morgens da, wenn die anderen aufwachten, hatte Brennholz und warmes Wasser gemacht und Haferbrei, für Max und die Alten. Er

Weitere Kostenlose Bücher