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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
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der Schultür ein breites Geräusch, es war das mühsam beherrschte Knurren unserer Mitschüler. Ich nahm die Hand des Großvaters, Lada sah es und sagte: »Jetzt fängt er bestimmt gleich an zu weinen.« Sie kannte mich besser als ich sie. Ich nahm alles, was ich hatte, legte es auf die Tränen und konnte sie etwa auf Höhe der Ohrläppchen stoppen. Der Großvater beugte sich herunter und sah mich an, sah die unsichtbaren Tränen, sah einen Reiseritter, für den das Ende des Sommers gekommen war, und flüsterte mir ins Ohr:
    »Patscherkofel.«
    Dann zog Lada mit einem Ruck die Tür auf, dem Knurren auf dem Flur war für ein paar Sekunden die Luft genommen, aber es schlug gleich darauf noch wilder über ihr zusammen. Das war der Moment, in dem der Großvater auch mich sanft hinterherschob.
     
    Viele Menschen erinnern sich erstaunlich gut an ihre Grundschulzeit, ich nehme an, weil es die erste eigene Erfahrung war, die erste Welt, in der sie sich selbst einrichteten. Sie können sich an das Mäppchen erinnern, wissen, welche Farbe ihre Hefte hatten, und natürlich, wie die Freunde hießen, die sie dort fanden. Nun, bei mir verhält es sich ganz anders. Was ich heute von der Dorfschule erzählen kann, ist, dass ich sehr schnell lernte, die Uhr zu lesen, um zu wissen, wann jeden Tag die letzte Stunde anfing. Der Sekundenzeiger der Wanduhr war mein erster Freund und der beste, den ich im Klassenzimmer fand. Er war so nett, als Einziger etwas gegen die endlosen Vormittage zu unternehmen. Mein Wunsch nach Zeitstillstand schien sich auf das ärgerlichste ausgerechnet in der Schule zu erfüllen.
    Die Lehrerin war jeden Tag von einer ausgewechselten Fröhlichkeit, die mir immerhin bemerkenswert vorkam, ganz anders jedenfalls, als ich es von den Erwachsenen bisher kannte. Sie nahm auch die unsinnigsten Bemerkungen unserer Schulkameraden an, als wären es ausgesprochene Geschenke der Geisteskraft. Jeden Tag beruhigte sie die Klasse mit der gleichen unerschöpflichen Nachsicht und belohnte die Aufrührer stets mit einer milden Vergesslichkeit, was die Strafen anging. Was sie erzählte, war bei aller zwitschernden Aufregung im Vortrag aber eine Enttäuschung. Ich sehe heute ein, dass es wahrscheinlich vor allem für solche Sechsjährige eine Enttäuschung war, die mit den Rede-Gezeiten und der Gutenmorgengeschichte von Max Honigbrod aufgewachsen sind, aber ich kannte es nun mal nicht anders, und so war mir das läppische Gerede von Eichhörnchen, die sich auf den Winter vorbereiten, oder der Arbeitstag eines Bäckers in Schaubildern von Anfang an zu wenig.
    Einer der wenigen konkreten Vorfälle, an die ich mich erinnere, war eine Stunde, die den heimischen Süßwasserfischen gewidmet wurde. Zum Zander gab ich etwas weiter, was mein Vater einmal im Zustand gewöhnlicher Zerstreuung geäußert hatte, nämlich dass der Zander das einzige Raubtier ist, das die Menschen hierzulande für eine Delikatesse halten. Meine Bemerkung sorgte bei der Klasse für verständnislose Heiterkeit, die Lehrerin nickte sie freundlich ab. Als die Rede auf die Karpfenartigen kam und ich abermals aufzeigte, um von meinen Erfahrungen mit unserer sehr alten unsichtbaren Schleie und ihren Frühstücksgewohnheiten zu berichten, ließen mir beide Seiten unverhohlenes Gekicher zuteilwerden. Ich wartete, dass Lada mir zu Hilfe kam, sie hatte die Schleie schließlich schon oft nicht gesehen, aber sie schwieg und blieb in ihrer üblichen Sitzposition, bei der sie nicht nur die Beine maximal durchgestreckt hielt, sondern ihren ganzen Körper wie ein Brett zwischen Tischkante und Stuhllehne klemmte. Wenn die Lehrerin sie höflich bat, aufrecht zu sitzen, knallte Lada effektvoll mit dem gekippten Stuhl nach vorn, saß in der nächsten Sekunde in der gewünschten Körperfaltung da und sah so ausgesucht brav aus, dass niemand und schon gar nicht unsere Lehrerin etwas sagen konnte.
    Meine ständige Nähe zu Lada war auch das Einzige, was mir in der Schule einen gewissen Respekt eintrug. Sie hatte es vom ersten Tag an geschafft, alles, was mir immer nur zur Schwäche gereichte, unsere dialektfreie Sprache, die uralten Gerüchte über Pildau, die aufgetrennten Pullover, die ich trug, eben das ganze Fremde, das uns gegen die anderen umgab, für sich in eine geheimnisvolle Überlegenheit zu verwandeln. Dazu kam wohl, dass sie mit ihrem Haar, den schlichten, blauen Kleidern, die ihr die Lene-Mama gekauft hatte, und den hellblau siedenden Augen gänzlich anders aussah als

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