Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
verschwommene Vorstellungen hatte. In der gleichen Art, wie man sich als Kind die Zeiteinheiten zu einem beliebigen Durcheinander sortiert, verschiebt man auch Orte in ihrer Größe, Lage und Erreichbarkeit. Ich kannte die Ansichtskarte mit unserer Hofstelle ganz genau und hatte auch jeden Stein und jede Steigung, die es hier gab, in den Füßen, aber was hinter diesen Rändern kam, war mir alles gleich weit und nah. Weil es das Einfachste war, stellte ich mir die Schule genau so vor wie unser Haus, nahm nur ein paar Änderungen vor, ließ etwa ein Schild mit der Aufschrift »Schule« aufhängen und einen Saal vorkommen wie den, in dem mein Vater an einem Rednerpult stand, so wie auf Fotos, die ich einmal von ihm gesehen hatte, in seinen Arbeitsräumen.
Es tat mir leid, dass unsere Abendschule in meinem Zimmer damit schon wieder hin war. Trotz Ladas Willkür als Lehrerin mochte ich es, mit ihr zusammen in meinem Zimmer zu sein, sogar die Tür zu schließen. Das war etwas anderes, als draußen neben ihr durch den Hof zu ziehen. Erst spät kam mir der Gedanke, dass in der Schule auch andere Kinder sein würden. Seit Lada da war, hatte ich aber gar kein Verlangen mehr nach anderen. Jetzt waren hier ein Junge und ein Mädchen, und die Dinge lagen damit durchaus gut. Ich hatte genug zu tun, mir Lada zur Freundin zu machen, so schien es, und wenn ich schon mehr als nur die halben Buchstaben gekonnt hätte, hätte ich darüber zweifellos etwas ins Tagebuch geschrieben.
Mein zweites oder drittes Leben begann an einem verregneten Dienstag im September, ein ganz genauer Dienstag war es, denn von nun an waren die Wochentage wichtig. Für Lada war es auch der Tag, an dem sie zum ersten Mal eine eigene Gutenmorgengeschichte erzählt bekam, nach mir, denn das, so teilte mein Vater mir mit vertraulich gesenkter Stimme mit, sei natürlich das Privileg des erstgeborenen Sohnes. Ich war sehr neugierig auf diese andere Geschichte, aber ich sollte auch in Zukunft kaum etwas davon herausbekommen. Lada gewöhnte sich an, mit Erscheinen meines Vaters nicht nur wach zu werden, sondern auch aus dem Bett zu schießen und die Zimmertür zu verriegeln. Sie sperrte ihn und die Geschichte bei sich ein. Diese Angewohnheit und die Tatsache, dass meine Tür gar kein Riegelschloss hatte, beschäftigten mich nachhaltig, und wann immer ich meinen Vater um Einsicht in das Geschehen am langen Bett bat, erschienen zwei kleine Grübchen auf seinen Wangen, an den Stellen, wo vor Lada mal der Seemannsbart gewesen war, und er beließ es bei einer wedelnden Handbewegung in Richtung seines Hinterkopfs. Es war ihr Geheimnis.
Der Großvater brachte Lada und mich an diesem Dienstag ins Dorf, in Ermangelung anderer Transportmittel fuhren wir mit dem roten Traktor, auf die Zündapp hätten wir zu dritt zwar auch gerade so gepasst, aber mein Vater hatte die vage Ahnung geäußert, man solle nicht gleich zu viel Anlass für Nachfragen geben. Unsere Einschulung hatte die gesamte kleine Einwohnerschaft von Pildau schon genügend in Unruhe versetzt, schließlich bedeutete sie nichts weniger als das Ende der gelassenen Einheit von Zeit, Ort und Handlung der Familie Honigbrod. Unser persönliches aristotelisches Ideal war vorbei, das hatte mein Vater am Abend zuvor mit ungewohnter Wehmut verlauten lassen. Am besten konnte natürlich Lene damit umgehen, sie hatte ihre Rückkehr nach England immer wieder hinausgeschoben und war länger bei uns als je zuvor. Sie war es, die mich an diesem Tag aus dem bescheidenen Angebot meines Kleiderschranks angezogen hatte und die am Abend zuvor die Opis auch noch dazu gebracht hatte, eine Zinkbadewanne aus der Scheune in die Küche zu tragen und Lada und mir ein gemeinsames Bad zu bescheren, was ich als allergrößtes Vergnügen in Erinnerung habe. Mein Vater war an diesem Morgen vor Aufregung mit einer Tasse sehr starken Zuckerkaffees nur im Weg gestanden, der Großvater hatte sein feierliches Tüchlein um und war schon in aller Frühe mit dem Traktor um die Hofstange gefahren, um sicherzugehen, dass er auch ansprang.
Sosehr ich alles aus diesem Sommer mit Lada vor Augen habe, so wenig weiß ich noch von dieser ersten Schule. Es ist, als hätten sich gleich mit dem Eintritt in das Schulsystem die Dinge verwirrt. Wenn ich heute manchmal versuche zu sehen, wo alles schon leicht auseinanderlief, dann bin ich geneigt zu sagen: an jenem Dienstag vor der kleinen Treppe mit dem gehämmerten Handlauf. Dort standen wir und hörten hinter
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