Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
sich noch vor, alles, was dort vor sich ging, einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Es waren dies die einzigen Momente, in denen er wie ein ganz normaler alter Mann war, bitter und wahrscheinlich ungerecht.
Ich achtete in diesen Tagen aber vor allem akribisch auf alle Stimmungen Ladas, suchte bei allen Begegnungen ihren Blick, notierte im Tagebuch, wie viele rosa Pfannkuchen sie gegessen hatte, und verglich diese Erhebungen mit allem, was ich über sie wusste. Sie war damals seit zweieinhalb Jahren bei uns, aber im Gegensatz zu uns anderen hatte sie keine Neigung zu Gewohnheiten. Deswegen war es nur ein mäßiger Trost, wenn mir in den ersten Tagen nach Zustellung meines Briefes alles schien wie immer. Manchmal war genau das Ladas Idee: alles wie immer scheinen zu lassen. Je länger sie gar nichts tat, desto seltsamer wurde meine eigene Verfassung. Selbst wenn ich mit erprobten Pildauer Zeitvertreiben beschäftigt war, allein die Schleie fütterte oder an der Stange horchte, dachte ich nicht an die Wolken oder wie verteufelt unsichtbar dieser Fisch war, sondern immer nur an Lada und wie sie sich schließlich geben würde. Das war neu, etwas so Dringendes zu haben, das mich nachts wach hielt und mir tagsüber Bauchschmerzen machte, einfach nur, weil ich ich war und sie sie. Hatte sie den Zettel gar nicht gesehen, war er herausgefallen?
Nach ich weiß nicht wie vielen Tagen war meine Unruhe in einem Maß gewachsen, dass mir schon die Aussicht auf irgendein Zeichen Ladas, egal ob günstig für mich oder nicht, viel wert schien. Eines Abends, nach einer Unterrichtsstunde des Großvaters, in der er bedächtig über die zahlreichen Verwendungsmöglichkeiten von heißem Dampf erzählt und im Anschluss gedämpften Mangold serviert hatte, folgte ich Lada deshalb ohne weitere Erklärung in ihr Zimmer. Sie nahm ihren Platz ein, das Buch war ein anderes als das mit meinem Brief. Ich hatte in der Aufregung mein eigenes Buch vergessen, darum saß ich einfach mit angezogenen Beinen am Bettende und tat eine Weile so, als wäre ich nur gekommen, um ein bisschen ihre Wände zu betrachten. Nach einer Weile fixierte sie mich. Ich kann nur ungefähr raten, was sie damals sah: einen neunjährigen Jungen, etwas zu klein für sein Alter, der sich die schulterlangen Haare immer noch mit einem uralten, roten Haarreif zurückhielt und dessen Pullover sich schneller Reihe für Reihe auftrennte, als er wuchs. Der Großvater machte zwar gelegentlich Knoten in die losen Wollfäden, aber das half wenig, meistens zog ich eine fransige Schleppe hinter mir her.
Nachdem Lada das alles und noch hundert andere Dinge mehr mit einem einzigen langen Blick gesehen hatte, fragte sie: »Was ist?«
»Nichts«, sagte ich.
Sie sah genauer hin, als stünde auf meiner Stirn doch noch etwas. Das war der Moment, ich wusste es, danach würde alles leichter sein.
»Hast du meinen Zettel gefunden?«
»Ja.«
»Ich meine, auch gelesen?«
»Ja.« Sie tat, als müsste sie sich erst daran erinnern.
»Und, also? Was ist damit?«
Sie war von beeindruckender Nachlässigkeit. Irgendetwas lief falsch, ich wusste nur nicht genau, auf welcher Seite des Tauziehens.
»Gut«, sagte Lada nach einer Weile zu meiner Überraschung und zeigte die zwei großen Zähne, nahm ihr Buch wieder auf, und alles, was ich noch von ihrem Kopf sah, waren die roten Haare, die bei feuchtem Wetter besonders wild wellten.
»Also darf ich dich umarmen?«
Sie sah kurz hoch. Sie war viel älter, aber das sage ich heute. »Einmal pro Tag.«
Es schien mir ratsam, nicht sofort von meinem neuen Recht Gebrauch zu machen. Als wäre es nichts, zog ich bald in mein Zimmer ab. Dort notierte ich im Wortlaut die Geschehnisse des Abends und schloss mit der triumphalen Feststellung: »L. und ich fahren wahrscheinlich auch bald nach England.« Es kam mir sehr erwachsen vor, gerade in Hinsicht auf die Zukunft, Lada im Tagebuch einfach abzukürzen. Da sie nun mal die Person war, die am häufigsten in meinen Aufzeichnungen vorkommen würde, und jeder wusste, wer mit L. gemeint war, schien mir das nichts anderes als sinnvoll.
Wenn mein Vater in England war, gab es keine Gutenmorgengeschichte, deswegen fingen die Tage schon besonders an. Und dieser erste Tag, an dem Lada und ich den Vertrag hatten, war auch insgesamt etwas Besonderes. Es war keine Schule, und als ich in die Küche trödelte, hatte der Großvater Zuckerkaffee und Porridge gemacht, der laut meinem Vater mindestens ebenso Säule des
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