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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
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bis Arme und der Hals juckten von den Graten der Pflanzen. Dann tauchte ich irgendwann bar jeder Orientierung an einem Feldrand aus dem Mais und treidelte am Rand entlang in die Richtung, in der ich die Hofstange sehen konnte. Lada saß dann meist längst an ihrem Fenster oder auf dem Podest, sah mich kommen, sagte nichts. Die Felder waren damals schon riesig, und es kam mir vor, als wären sie alle miteinander verbunden, als könnte man im Mais bis weit ins Land wandern. Die Grenzen unseres erlaubten Gebiets dehnten wir jedenfalls mit diesem Spiel gehörig aus.
    Berühren war Gefangen. Wenn ich sie fing, war sie kein Tier mehr, sondern nur noch ein Mädchen, ganz weich, und ein paar Minuten lang durfte ich sie dann an der Hand hinter mir herziehen oder meine Arme um sie geschlungen halten, und es muss einer dieser Momente gewesen sein, in dem ich mich entschied, ihr einen Brief zu schreiben. Briefe kamen in meiner Gutenmorgengeschichte gelegentlich vor, und auch der Großvater hatte von einem Brief erzählt, den er an eine Fabrik in der Stadt geschrieben hatte, vor langer Zeit. Wenn wir Sterne guckten, erzählte er nebenbei diese Sachen, in denen er manchmal selbst so alt war wie ich, ein Umstand, den ich bis heute kaum glauben kann. Jedenfalls hatte ich neben der Unfallschilderung meines Vaters nun schon einen zweiten Themenkomplex, den ich mir merken musste, um ihn irgendwann exakt niederzuschreiben. Es war mir unverständlich, warum die Opis es nicht selbst taten, es wäre für sie doch viel leichter als für mich, mit meiner zu weichen Hand.
    Ich hielt es für richtig, die Lene-Mama in meine Pläne mit dem Zettel an Lada einzuweihen. Mit meinem Vater darüber zu sprechen hätte zweifellos eine unangenehm genaue Schätzung meiner Absichten und verwirrende Vergleiche nach sich gezogen. Und Lene war ein Mädchen. Sie war diesmal für ein paar Tage gekommen, dann würde sie mit meinem Vater zurück nach England reisen, das taten sie manchmal, auch wenn ich nicht verstand, wozu. Die Lene hörte sich mein Vorhaben an, das zusammengefasst darin bestand, Lada zu fragen, ob ich sie jeden Tag einmal feste umarmen dürfte, ohne dass sie zischte oder danach nicht mehr mit mir sprach.
    Lene fand, das wäre ein sehr vernünftiger Inhalt für einen ersten Brief, und so schrieb ich nach ihrer Anleitung einen Zettel mit drei Sätzen und versteckte ihn weit hinten in dem Buch, das Lada gerade las.
    Ich kann mich heute nicht mehr erinnern, was es für ein Buch war, wohl aber an die Hoffnung, Lada würde diesmal langsam lesen, denn sobald der Brief in dem Buch lag, war es mir doch wieder etwas unrecht. Zum einen schien mir die Sache nun einigermaßen halsbrecherisch. Lada war, wenn man es genau betrachtete, schon bei weniger ernsten Versuchen, sie an mich zu binden, unbeherrscht geworden. Andererseits war mir Lenes Mitwisserschaft nun auch ungeheuer, sie würde es zweifellos den Opis erzählen, die daraufhin vielleicht ähnliche Zettel an Lada schrieben, woraufhin meine schöne Idee verwässert würde und das Schneidige meines Anliegens vielleicht verlorenging. Aber Lene und mein Vater fuhren am übernächsten Tag nach England, was ich diesmal begrüßte, denn damit war das Haus nahezu leer, und alle Wege des Großvaters kannte ich im Voraus. Auf dem Motorrad rollten sie vom Hof, mein Vater fest an Lenes Rücken geklammert, sein Seesack mit dem Weltempfänger und zwei Kordhosen hinter sich verzurrt. Wir übrigen standen Spalier, alles weinte, auch der Himmel.
    Es regnete viel in diesem Herbst, das weiß ich noch, weil wir nicht mehr im reifen Mais spielen konnten, obwohl ich mir doch gerade dort die große Szene ausgemalt hatte, in der Lada meinen Zettel mit Anmut beantwortete. Aber jetzt konnte ich nur unter dem tropfenden Scheunendach stehen und zusehen, wie der Mähdrescher unser Labyrinth Bahn für Bahn auflöste. Jemandem, der nicht in einer Einöde aufgewachsen ist, kann man schwer erklären, wie wichtig diese Termine in meinem Jahr waren, an denen bei uns etwas geschah, das nicht von uns kam. Es war die gleiche Freude, mit der ein entlegenes Städtchen den Zirkus erwartet, wenn er einmal im Jahr dort Station macht, oder auch nur den Schrotthändler. Wenn der Mähdrescher vor unserer Zufahrt wendete und nicht einfach weiterfuhr, war das die Bestätigung, dass es uns gab. Der Großvater schüttelte nur den Kopf darüber, feuchten Mais zu ernten. Obwohl er die Rübenfelder von Pildau schon lange verpachtet hatte, behielt er es

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