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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
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dass wir nicht mehr in einem Bett schliefen. Ich vermisste die fiebernde Abwärme und den Tropfen Benzin zwischen ihren Haaren, ich suchte danach, aber sie nahm es immer mit sich.
    An den letzten Stangentag des Lada-Jahres erinnere ich mich besonders, die Lene war schon wieder in England, die Opis längten allein, und Lada und ich hingen am Balkon. Überraschend brachte der Großvater nicht nur den neuen Stecker aus dem Schuppen, sondern auch eine große Scheibe aus Holz, die man in zwei Hälften teilen konnte. Die legten die Opis um unsere Hofstange, schraubten und nagelten daran herum, dann längten sie, und die kleine Plattform schwebte einen Meter über dem Podest. »Was ist das?«, rief ich vom Balkon und sah genau, wie keiner der beiden Männer freiwillig antworten wollte. Schließlich war es der Großvater, der sagte: »Nur ein Platz zum Ausruhen, Jasper. Wenn du willst, komm her und sieh dir das an.« Sie hoben uns auf die Scheibe, Lada trug ihr Buch bei sich und fing an zu lesen, an die Hofstange gelehnt, dabei war es November. Ich hatte das Ohr am Holz und zählte bis neunzehn. Oben zogen dichte Wolken.
     
    Meine Lada-Verehrung war nur eine logische Folge der Ereignisse. Sie kam zu uns nach Pildau, sie schloss unsere Türen erst auf, nicht nur, weil sie das letzte freie Zimmer bewohnte, sie brachte die Lene-Mama häufiger zu uns, gewährte mir mit ihrer Anwesenheit Ruhe in der Schule, sorgte für Gerede im Dorf, und neben diesen ganzen Segen war sie das Schönste, was ich kannte. Wenn sie auf ihrem Fensterbrett saß und nachlässig meine Spiele unten beobachtete, stand ihre Oberlippe immer im gleichen Abstand zur Unterlippe auf, ein winziger Spalt, gedeckt von zwei großen weißen Zähnen. Durch den hindurch atmete sie, zischte ein paar Worte und trank ihren Zuckerkaffee, dieser winzige Spalt zwischen zwei hellen Lippen war so eigentlich ihr Instrument für alle Nachmittage. Ladas Augen gehörten den Buchstaben in ihren Büchern, alles andere streiften sie mit nur ungefährem Interesse. Mal war sie für ein paar Stunden beim Großvater im Garten dabei, mal kauerte sie vor der Engel-und-Oliven-Tür und hörte auf das englische Radio, aber das waren alles nur Launen, so ganz bei sich war sie an ihrem Fenster, ein Buch zwischen den Knien. Was sie wirklich erreichen sollte, musste über die Seiten kommen, das wusste ich. Den Zettel, den ich ihr schrieb, legte ich deswegen auch in ein Buch.
    Es war wohl die Zeit, in der sie anfing, allein zu spazieren. Die Opis nannten es so. Ich sah keinen Unterschied zwischen Ladas Spazieren und dem Herumstreifen, das ich schon immer praktizierte, bis der Großvater pfiff, außer dass Lada es vorzog, gleich irgendwo im Wald zu verschwinden oder ihre Spaziergänge direkt durch das hochstehende Maisfeld zu legen. Sie hatte nichts dagegen, wenn ich auf diesen Gängen dabei war, und ohne ein Wort begann so im sommerlichen Maisfeld auch eines unserer besten Spiele. Erst gingen wir an einer Reihe entlang bis in die dunkle Tiefe des Feldes, ich hinter Lada, die sich wie ferngesteuert bewegte. Dann schlug sie in schneller Folge Haken, wechselte die Reihen, schlüpfte zwischen den festen Maisstangen durch, die sich nur mit Kraft auseinanderbiegen ließen, und das so lange, bis sie ein paar Meter zwischen uns gebracht hatte und schließlich in dem dunklen Grün verschwunden war. Suchen. Ich stand, hörte nach dieser ersten Hatz nur das Klopfen meines Herzens, es war ziemlich oben im Hals. Den Kopf im Nacken, sah man weit über den letzten Spitzwedeln des Maises unseren Himmel, das war das Einzige, was mir in diesen ersten Momenten des Alleinseins Trost gab. Ich war hier ziemlich klein. Licht und Geräusche kamen dumpf zwischen den Pflanzen an, das Lauteste war das eigene Pumpen und Rascheln, bei jedem Schritt. Lada war im Maisfeld wie ein Tier. Manchmal hatte ich das Glück, in eine Reihe zu treten und sie weit hinten in derselben Reihe stehen zu sehen. Sie witterte, bewegte sich dabei aber fortwährend und sehr langsam, wie ich es bei Katzen gesehen hatte. Die roten Wellenhaare schwammen leise durch den Mais, ich immer hinterher, denn stets war ich es, der suchen musste, und sie war die Jagd. Wenn ich mich zu unglücklich anstellte, wurde sie ungeduldig und lockte mich, ließ mir ein wütendes »Piep!« zukommen oder zischte eine Melodie vor sich hin. Es war trotzdem sehr schwierig, ihr nahe zu kommen. Manchmal verschwand sie in aller Stille, und ich ruderte endlos durch die Stängel,

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