Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
danach beim Hinaustreten rechts auf dem Küchentisch zur weiteren Verwendung abzustellen hatte. Diese Logik und effektive Nutzung unseres warmen Wassers entsprach ganz außerordentlich seinem Geschmack. Lada und ich mochten die schmutzigen Gemüsekörbe nicht, meistens hielten wir es so, dass wir duschten, bis die Strahlen schon sehr weich waren, und dann nur die letzten Tropfen dem Grünzeug opferten.
Das Tagebuchschreiben gehörte bald ebenso zu meinen Gewohnheiten wie die Gutenmorgengeschichte. Ich hatte einen kleinen Bleistift, den ich immer in die Seite des letzten Eintrags legte, das Buch selbst verwahrte ich unter meinem Bett. Da ich keine rechte Vorstellung hatte, was eigentlich einen Tagebucheintrag ausmachte, befolgte ich mein eigenes Regelwerk. Jeden Tag notierte ich als Erstes, was dem Reiseritter Robert zugestoßen war, weil damit sozusagen mein Tag begann. Danach streifte ich das Schleiefüttern mit meinem Vater, schrieb nie etwas zur Schule, dafür wurden Erlebnisse auf dem Weg und unsere Fortschritte im Garten mit dem Großvater sehr sorgfältig aufgeschrieben, ich hielt akribisch fest, was gewachsen war, wo die ersten Fruchtansätze zu sehen waren oder welche Prognose der Großvater über die Schnecken gab. Den zusätzlichen Unterricht der Opis, der gewöhnlich vor dem Essen angesetzt war, behandelte ich ebenfalls ausführlich. Sie gaben uns nie Hausaufgaben, dafür bekamen wir von meinem Vater stets ein neues Buch mit in den Abend, Lada und ich jeweils ein anderes. Ich notierte davon Titel, Seitenzahl und Farbe des Umschlags.
Wir mussten diese Bücher nicht unbedingt lesen, mein Vater fragte nie mehr danach, und trotzdem überreichte er sie uns jedes Mal mit großer Rührung und so unbedingter Dringlichkeit, dass ich mir kurz kein größeres Glück vorstellen konnte, als dieses Buch in mein Zimmer zu retten. Lada las schneller als ich. Da niemand kontrollierte, wann wir das Licht ausmachten, litt unsere Nachtruhe nach Einführung der Büchergaben beträchtlich. Wenn ich meine Tür angelehnt ließ, musste ich auf meinem Bett nur ein wenig zum Fußende krabbeln, um in den Gang und bis zu Ladas Tür am Ende zu sehen. Es brannte immer Licht, sie war immer wach. Trotzdem verschlief sie keine einzige Gutenmorgengeschichte, der Großwesir hat niemals etwas in dieser Richtung erwähnt.
Die Auswahl der Bücher war alles andere als kindgerecht, was ich aber erst jetzt mit Gewissheit sagen kann. Eine von Ladas ersten Buchgaben war ein Band Brecht-Gedichte, bei dem zwar einige Seiten eilig entfernt worden waren und stattdessen ein Zettel eingelegt war, auf dem versprochen wurde, diese Seiten zu Ladas vierzehntem Geburtstag nachzureichen, aber wenn ich mir das ansehe, was noch übrig war, war diese Zensur reichlich lückenhaft. Mein erstes Buch war
Wind in den Weiden
, das ich bis heute oft gelesen habe. Ich war damals in meiner mangelnden Leseerfahrung überzeugt, die Geschichte spielte irgendwo auf Pildau, so wie alle Geschichten. Es müsste wohl drüben, am Ufer des Weihers, zwischen den Birken sein, erzählte ich Lada in großer Ernsthaftigkeit, woraufhin sie sich das Buch von mir lieh. Es wurde auch ihr liebstes, zumindest am Anfang, später hatte sie unüberschaubar viele Lieblingsbücher. Es wäre leicht, zu schreiben, dass sie, wenn sie las, von konzentrierter Andacht war, aber wenn ich es mir so genau wie möglich in Erinnerung rufe, stimmt das eigentlich nicht ganz. Sie schnappte nach den Sätzen wie ein Ertrinkender nach Luft, es sah nicht nach Freude aus. Wenn sie mit angezogenen Beinen in der Fensterecke ihres Bettes saß, Kissen und Deckenwulst um sich, den Buckrücken fest zwischen den Schenkeln, dann musste ich sie zwei oder drei Mal ansprechen, ehe sie mich sah und mein Anliegen mit einer Verzögerung beantwortete, die ein untrügliches Zeichen für die Qualität der Lektüre war. Wenn ich an manchen Abenden bei ihr lesen durfte, auf der anderen Seite des langen Bettes, kam ich in meinen Büchern kaum vorwärts, weil ich nach jedem Absatz Lada ansehen musste, wie sie unwirsch die Seiten umwarf. Ich musste an die Mähdrescher denken, die im Frühherbst auf den Feldern bis an die Grenzen von Pildau kamen, vorn das Korn schluckten und hinten aus einem kleinen Schornstein mit hohem Druck die Spelzen regnen ließen. Irgendwo bei Lada musste es so etwas auch geben, ein Rohr, aus dem klein gestückelt all das schoss, was sie vorn aus den Büchern in sich hineinfraß.
Es war schade, fand ich,
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