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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
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Hofstelle, aber keine davon sollte von Dauer sein.
     
    Ich weiß nicht, warum es so lange dauerte, aber erst in den Sommerferien, unseren letzten in der Dorfschule, standen wir wieder allein an der Aussicht. Die glitzernden Bänder waren immer noch da, weit unten, viel weiter, als ich es in der Zwischenzeit für mich geordnet hatte, zogen sich diese zarten Linien durch die Straßenböschung. Diesmal gingen wir. Was mich im letzten Herbst noch gehalten hatte, war verkümmert, und an seine Stelle war eine Kühnheit getreten, die mich immer dann besonders reizte, wenn Lada dabei war. Wir rannten den Hügel ab, wir köpften die Spitzen der Maulwurfshügel, wir brachten die Grillen zum Schweigen. Am Fuße des Hügels ging ein Pfad, der schließlich zu einem Feldweg wurde, welcher genau auf die Straße zulief, die Geräusche der Autos waren sehr nah, jeder Lastwagen schob ein dunkles Haus vor sich her und jedes Motorrad ein paar hohe Zornfalten. Wir hatten aufgehört zu laufen, Lada ging voran, ich musste mich immer wieder umsehen, hoch zu unserer alten Aussicht und zur Bank aus Stämmen, ich erwartete, der Großvater würde heraustreten und sehen, er würde rufen und winken und wir wären schon zu weit. Aber oben am dünnen Wald war alles ruhig, niemand kam.
    Weil der Wald steil oben das Sichtfeld abschloss, sah man die Hofstange von dieser Seite nicht, oder ich weiß nicht genau, warum, vielleicht war es an diesem Nachmittag auch zu diesig, jedenfalls gingen wir ganz außerordentlich frei dort unten. Lada hielt den Blick auf die Glitzerbänder geheftet, sie hatte schon vorher gesagt, wir dürften sie nicht aus den Augen verlieren, es wäre durchaus möglich, dass sie von unten anders aussähen und nicht glänzten, aber das stimmte nicht. Die Fäden, oder was es war, wurden immer mehr, es war ein Geflecht in den Büschen, auch an den Streben und gegen das Grau der Leitplanken glitzerte es. Schließlich machte der Feldweg einen Knick, um weiter an der Straße entlangzulaufen, es war die Seite, die nach Westen führte. Lada ignorierte die Wegführung und kletterte in die Straßenböschung, Weißdorn und Spiersträucher hatten hier ein dichtes Gestrüpp gebildet. Ich sah, worauf sie zuhielt, ein Knäuel der glitzernden Fäden hing in der Astgabel eines niederen Baumes, einer kleinen, verlorenen Wildkirsche, die nur sehr wenige Blätter trug. Ich folgte ihr, Lada bog das Bäumchen, und ich fischte nach dem Knäuel, dann hielten wir es in der Hand. Es war mattschwarzes Band, sehr glatt und vielleicht so breit wie ein Bleistift, fürchterlich hatte es sich in die Äste verknotet, ein Ende flatterte frei im Wind, das andere zog sich in das angrenzende Dickicht, Lada ruckte daran, und mit einem müden Schnappen riss der komische Faden. Was wir davon hatten, schleppten wir zum Weg, die Geschwindigkeit der Autos spürte ich bis auf die kleinen Härchen auf meinem Arm, aber nur oben an der Leitplanke, unten war es besser.
    »Was ist das?« Ich spannte das Band zwischen meinen Händen, bis es erneut riss.
    »Ha, da liegt ein Schuh«, sagte Lada, unser Fund war ihr schon wieder langweilig, so ging das bei ihr. Ich wickelte die Schnur um meinen Arm, was nicht übel zu meiner Gesamterscheinung passte, denn ich trug meine Hose mit einem Gartenstrick um mich geschnürt, oben am Bund und unten an den Hosenbeinen. Lada hatte mit einem Stock den Schuh geangelt, es war eine Sandale aus verwittertem Rot. Sie schleuderte das Ding auf den Weg und ging weiter wie ein Forscher, wobei ihr der Stock als Seismograph zu dienen schien. »Eine Dose!«, rief sie und peitschte sie mit einem Stockhieb auf den Weg. Ein Stück Reifen, eine zerrissene Reisetasche, Folie und einen Eimer mit der Aufschrift Margarine beförderte sie auf den nächsten Metern aus der Straßenböschung ans Licht. Das war erstaunlich. Man darf nicht vergessen, dass wir keineswegs verwöhnt waren, was Spielzeug anging. Was es auf Pildau gab, war entweder so lange da, dass wir es schon immer kannten, oder die Lene hatte es einmal mitgebracht, und das waren dann meistens Notwendigkeiten wie Kleidung oder Schulsachen. Nie gingen wir selbst einkaufen, und deswegen waren Schätze, wie sie Ladas Stock hier einfach so fand, eine äußerst erregende Angelegenheit.
    Ich untersuchte die Stücke. Die Tasche schien mir bis auf die gerissenen Henkel und etwas Moos im Inneren einwandfrei in Ordnung, eine ganz ähnliche benutzte mein Vater, wenn er nach England fuhr. Jemand musste sie verloren

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