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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
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haben, auch wenn es wohl schwer war, eine Tasche aus dem fahrenden Auto heraus zu verlieren. Aber ich wusste aus einer Abbildung in einem Buch, das ich in dieser Zeit zu lesen hatte, dass es Menschen gab, die auf den Tragflächen von Flugzeugen spazieren gingen, und warum sollte es diese schöne Sitte nicht auch auf Lastwagendächern oder Kühlerhauben geben? Ich teilte Lada diese Einschätzung mit, sie unterbrach mich aber gleich mit großer Genugtuung: »Noch ein Schuh!« Diesmal war es ein sehr großer, schwarzer Schuh, dem die Zunge fehlte. Den Eimer hatte ich mittlerweile als Sammelbehälter für unsere Funde bestimmt, ich hob alles auf, was Lada herausfegte. Schmutzbunte Stofffetzen, ein Brillengestell, dem ein Bügel fehlte, zwei rostende Eisenreifen wie für ein Fass, etwas von einem Autorad, von dem ich den Namen bis heute nicht kenne, eine goldene Hülse, von der ich annahm, sie wäre ein goldener Fingerschoner, denn sie passte perfekt auf meinen Zeigefinger. Es war kolossal. Jedes einzelne Stück würde mich über Wochen beschäftigen, und wir waren erst einen ganz kleinen Abschnitt an der Straße gegangen. Über uns in den Zweigen hingen die glänzenden Bänder, aber wir beachteten sie gar nicht mehr, es gab ja viel Besseres. Dann bekam ich beim Blick in den gefüllten Eimer einen Schreck.
    »Was ist?«, fragte Lada.
    »Mensch, hier wohnt doch einer, und wir nehmen ihm alles weg, die Schuhe und sein Gold.« Schnell nahm ich die Hülse vom Finger.
    Lada lachte spöttisch, aber nicht so lange, wie sie sonst spöttisch lachte, sie war sich auch nicht ganz sicher.
    »Warum sollte jemand sonst einen Eimer und seine Schuhe hier hinstellen?«, trumpfte ich mit der gleichen unwiderlegbaren Betonung auf, in der mein Vater seine Argumente zu äußern pflegte.
    Lada schien darauf keine Antwort zu finden, etwas betrübt betrachteten wir den Eimer mit den Schätzen, dann überkam mich eine große Furcht vor den rasenden Autos und vor der Weite zu unserer Aussicht, man sah ja nicht mal mehr die Stämme! Ich wollte so schnell wie möglich zurück, und Lada kam mir nach, den Eimer ließen wir, wo er war. Als wir endlich den Hang erreicht hatten und in einem mühsamen Zickzack hinaufstiegen, keuchte sie mir ganz nah ins Ohr: »Wenn es morgen nicht weg ist, gehört es aber uns.«
     
    Diese letzten Sommerferien waren ein einziges Gewitter. Jeden Mittag ballten sich im Süden Türme aus Wolken, ihr Grollen rollte den ganzen Tag schon zwischen den Hügeln, und es dauerte mal bis zum Abend, mal ging es erheblich schneller, aber immer schoben sie sich irgendwann über die Hofstange und nahmen alle Konturen von Pildau ins Dunkle, nur das Wasser im Löschteich wurde dann hellgrün. In die Birken fuhr aus dem Nichts ein harter Windschlag, ihr böses Rauschen war das letzte Warnsignal für Lada und mich, meistens waren wir schon oben am steilen Berg, brauchten nur noch abzulaufen und stolperten bei den ersten großen Tropfen in die Küche. Unsere Ausflüge an die Straße wurden in diesem Sommer ebenso unvermeidlich wie die Gewitter. Natürlich war der erste Eimer mit den Schätzen noch dort gestanden, natürlich wohnte dort niemand, doch das sind Sachen, die ich erst nach und nach für mich begreifen musste, ich nehme an, bei Lada ging es erheblich schneller. Aber es ist für einen Fast-Elfjährigen eine enorme Erkenntnis, wenn er etwas Eigenes betritt, etwas, das nicht von den Erwachsenen in irgendeiner Weise vorbereitet wurde, etwas, das nicht abgestecktes Spiel ist, keine hundertfach getestete Mutprobe, sondern ein tatsächliches, eigenes Abenteuer, in das er sich wissentlich und schutzlos begibt, ohne zu wissen, welches Ende es nimmt. Als Erwachsener begegnet einem derlei vielleicht jeden Tag, und man ist dringend angehalten, es nicht zu hoch zu bewerten, aber wenn es das erste Mal geschieht, ist es nicht gleich auf einen Schlag zu verstehen. Es wird aber einfacher mit jedem Tag, den man näher an das sechzehnte Lebensjahr heranwächst.
    Wir sammelten uns also Pfade durch die Straßenböschung und fanden ein wirklich sehenswertes Konglomerat an Habseligkeiten. Sicherlich, der Müll auf offener Strecke einer vielbefahrenen Schnellstraße unterscheidet sich deutlich von dem, was die Menschen sonst so hinterlassen. Aber es ist eigentlich doch erst der Straßenrand, der sie zu besonderen Dingen macht, weil hier alles so fremd und fehl am Platz scheint. Unsere Fundstücke lagen in den Büschen, aufgereiht wie Kometensplitter in

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