Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
insgeheim bin ich mir aber sicher, dass wir einfach kein Geld hatten. Es war die Zeit, in der mein Vater nur einen Auftrag hatte, der sich endlos hinzog und dessen Budget dabei niemals aufgestockt wurde. Es handelte sich um die Frage der Schlaflosigkeit in kleinen Städten, ich erinnere mich gut, und oft denke ich, dass es eigentlich nicht die Ameisen waren und nicht die blauen Pillen, sondern diese Sache, die alles aus dem Gleichgewicht brachte. Es war der einzige Auftrag, der nicht im Stall blieb und von dem er regelmäßig sprach, vermutlich, weil er sich nicht anders zu helfen wusste.
Ludwig Honigbrods Himmelfahrt
Lada wuchs, ich kam offenbar nach meinem Vater. Wir hatten am Schuppen eine Messleiste, an der uns der Großvater auf Wunsch einen Strich machte, wo wir oben aufhörten. Ladas Striche waren links auf der Bretterseite, meine rechts. Zwischen unserem zehnten und zwölften Geburtstag machte sie breite Sprünge, während ich stoisch immer nur einen kleinen Fingerbreit weiterwuchs. »Du bist wie die Hofstange, Jasper«, tröstete mich der Großvater, »immer das gleiche kleine Stück weiter in den Himmel, du wirst sehen, immer weiter.« Tatsächlich aber wurden meine Fortschritte kleiner, was auch daran liegen mochte, dass der Großvater uns immer öfter an die Messstelle holte, weil er sich nicht mehr an das letzte Mal erinnerte. Weil es ihm solches Vergnügen machte und er stets besonders akribisch mit Messlatte und Kreide hantierte, gingen wir immer mit. Einmal bei dieser Messung fiel sein Blick auf das Band an meinem Arm, ich hatte mir ja aus den Glitzerbändern von der Straße einen viellagigen Armwickel gemacht, ein bisschen wie die römischen Legionäre.
»Weißt du, was das ist, Jasper?«
»Glitzerband«, sagte ich wahrheitsgemäß.
»Das ist Tonband, es kommt aus einer Kassette.«
Ich forschte in seinem Gesicht nach Hinweisen, aber ich erkannte nichts. Der Reiseritter kannte kein Tonband, ich kannte es nicht, und mit Mangold konnte es auch nichts zu tun haben.
»Wenn du das abwickelst, zeige ich dir vielleicht, wie es gehört.« Der Großvater wies mit dem Finger auf meinen Armschmuck, dann verschwand er in der Scheune und kam erst am Abend wieder, in der Hand einen kleinen Koffer in der Farbe von Pusteblumen. In der Küche klappte er ihn auf, heraus kam das Erstaunlichste, was ich je in einem so kleinen Koffer gesehen hatte. Da waren Tasten, zwei große Spulen und ein Stecker für den Strom. »Das ist eigentlich für ein breiteres Tonband«, sagte er bedächtig.
Ich nickte wissend, obwohl ich nichts verstand. Er zeigte mir eine der Spulen und erklärte, wo er aus zwei kleinen Blechmanschetten die Spur so verkleinert hatte, dass auch mein Band darauf passte. Dann erläuterte er Tonabnehmer und den kleinen Lautsprecher, öffnete die Oberseite des Geräts und wies mit einem Holzsplitter vorsichtig auf die gelöteten Platinen, die Verstärker, es sah aus wie ein Spielbrett mit Figuren. Ich hatte mein Armband schon abgewickelt, es lag spröde kringelnd auf dem Tisch. Mit großer Geduld wickelte der Großvater es auf die eine Spule, schob und drückte mit winzigen Werkzeugen daran herum, bis es schließlich glatt lief, von einer Seite des Koffers zur anderen. Ich durfte die Taste drücken, auf die er zeigte, es ging schwer, bis sie richtig einrastete, dann lief das Band, die Spulen drehten sich träge, und schließlich rauschte und knackte es aus dem kleinen Koffer heraus, alles seltsam zu laut und viel genug, mich vollkommen zu bannen. Der Großvater regelte ein wenig daran herum, und auf einmal war in dem Rauschen und Knacken eine Leier, die immer mehr zu einer Stimme wurde, jemand sang aus dem Koffer, und dann gab es etwas, das seinem Singen auf jedem Schritt folgte, sich überschlug und unterging, um gleich wieder aufzutauchen. Es war Musik. Schnelle, laute Musik und ganz anders als das Singen mit der Schulklasse, wo die Lehrerin in der Mitte saß mit einer Gitarre und mild daran zupfte. Was hier klang, war wie eine Verfolgungsjagd, und alles geschah gleichzeitig, war eine Sekunde lang ein furchterregendes Durcheinander, und in der nächsten Sekunde stand der Sänger plötzlich allein da, er sang englisch, das hörte ich, obwohl es so schnell war, und anschließend schlug wiederum alles über ihm zusammen. Dann riss das Band. Wir standen wieder in den Pildauer Geräuschen, die ewige Amsel und ein Kuckuck, weit oben im Wald. Der Großvater sah mich erwartungsvoll an.
Ich war wie geschüttelt.
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