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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
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Bild so unheimlich fröhlich herausstrahlte, und das, obwohl ihr die Kleidung im Schwimmbad gestohlen worden war, wie an der Seite stand.
    Es raschelte im Gebüsch, und Lada stand vor mir, ich schlug die Hefte zu. »Was machst du hier?«, fragte sie misstrauisch. Obwohl gar kein rechter Anlass dafür bestand, war mir die Sache unangenehm, aber zum Glück interessierte sie sich nicht für meinen Versuch einer Ausrede. »Du musst kommen, weil der Opi ist weg. Und du warst auch weg.« Das war ihre typische strenge Stimme für Neuigkeiten, und sie sagte immer Opi.
    Ich bekam einen Schreck, weil ich als Einziger schon wusste, dass ich nichts mit einem verschwundenen Großvater zu tun hatte, sondern einfach nur zu den Damen in den Heften gegangen war, und jetzt war das Unglück geschehen. Wir jagten zum Hof zurück, kein Lachen beim Hinunterrennen, und von da an nie mehr, wenn ich mich recht erinnere.
    Zunächst war nichts anders als sonst an einem Nachmittag Anfang September, nur das Radio im Arbeitsstall war aus, und die Tür stand weit offen. Wir fanden meinen Vater, der in einem seiner Sessel saß und nicht ganz bei uns zu sein schien, nicht mal, als wir direkt vor ihm standen. Er sah mich erst lange an, und dann formulierte er den gewöhnlichsten Satz, den ich je von ihm gehört habe. »Jasper, weißt du vielleicht, wo der Großvater ist?« Er sagte es langsam und ohne mich dabei anzusehen, als wüsste er schon alles. Alarmiert von dieser komischen Art, rannten wir durch das Haus und zum Rübenernter Universal, wir gingen zum Erdkeller, ich sah unter jeder Mangoldstaude nach und in dem Verschlag des Schuppens, wo der Großvater das Gartenwerkzeug aufbewahrte. Dort war auch die Bretterwand, auf der er in ordentlicher Schrift seine Notizen zum Garten machte, das ganze Jahr fügte er Saattermine und Pflanzenhöhen dazu. Aber da stand etwas anderes, ich sah es gleich aus dem Augenwinkel, weil es ein ganzer Satz war und genau auf meiner Höhe geschrieben:
    Was die anderen auch sagen, Jasper, ich sehe nur nach der Hofstange. Aber warte nicht zu lange auf mich. Warte auf gar nichts mehr und hänge Dein Herz nicht an Geschichten. Was wir erleben, ist niemals verloren, auch wenn es keiner mehr weiß. Geh los.
    Ich las es einmal und noch einmal, aber ich verstand nichts, es war ein Spiel, gewiss, er wartete irgendwo, ich durfte jetzt losgehen, so stand es. Ich rannte zum Haus, stieß die Tür zum Zimmer des Großvaters auf, und in dem Moment, in dem sie aufschwang, stellte ich mir vor, wie er dort lag und schlief, wie er es in den letzten Wochen oft gemacht hatte, auch außerhalb seiner Zeiten. Ich wusste, wenn man sich etwas in der Sekunde davor vorstellt, tritt es niemals so ein, aber ich konnte nichts dagegen tun, und deswegen lag der Großvater nicht dort. Mattes Licht kam von der Gartentür, wo der Mangold brannte. Die Baupläne lagen sauber auf einem Stapel, das Blauzeug hing auf einem Kleiderbügel an der Wand, das Bett war gemacht. Ich weiß nicht, welches dieser Dinge es war, aber ich musste dringend weinen, vielleicht auch nur, weil schon überall die abendlichen Herbstschatten standen. Ich öffnete den Schrank und sah mir unter Tränenschleiern alles an, jedes Teil, das dort stand, rührte mich neu. Ich griff, weil ich etwas greifen musste, in seine Unterhemden, und dahinter waren die Schachteln mit Tabletten, und sie waren alle voll. Oben im Fach fehlte etwas, und ich starrte lange hinauf, ohne darauf zu kommen, was es war. So fand mich mein Vater, er folgte meinem Blick und sprach es im selben Augenblick auch aus. Es waren die Steigeisen für die Hofstange, die immer dort oben lagen und die uns verboten waren, sie waren nicht mehr da, und der Umstand, dass das Blauzeug trotzdem an der Wand hing, machte alles erst ganz wahr und ganz fürchterlich.
    An das, was dann geschah, habe ich nur noch halbe Erinnerungen. Ich weiß, dass Lada schon am Fuß der Stange stand und hinaufweinte, als wir dort ankamen. Ich weiß, wie Steinmehl von oben sanft herabrieselte und im letzten Licht der Sonne reflektierte und uns noch mehr in die Augen stach. Es war schon dunkel, als mein Vater mit der längsten Leiter, die wir auf dem Hof hatten, an der Stange stand, aber die Plattform, die sie vor einigen Jahren eingebaut hatten, war schon zu weit gewachsen, er konnte sie um eine Armlänge nicht erreichen. Ich weiß, wie wir in der Küche saßen und mein Vater fahrig ausrechnen wollte, wie hoch der Großvater gekommen war, wann wir ihn

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