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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
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zuletzt gesehen hatten, aber wir hatten ihn an dem Tag noch gar nicht gesehen. In den Ferien ging jeder seiner Wege, und wir richteten uns dabei zunehmend weniger nach den Plänen der Opis. Er konnte also schon den ganzen Tag hinaufgeklettert sein, das wollte mein Vater mit einer schnellen Skizze feststellen, über die er »Satz des Pythagoras z. Feststellung der Papa-Höhe« gekritzelt hatte, er konnte auch jetzt nicht ganz auf die Standards verzichten. Aber die Formel blieb ungenau, weil wir nicht wussten, wie schnell der Großvater hinaufsteigen konnte, ich hatte ihn ja kaum je dabei gesehen. Lada schlug vor, die Nacht am Podest zu verbringen. Es waren solche unlogischen Pläne, die meinen Vater manchmal ohne Widerrede überzeugten, genau wie er ein Gespür für Gesetzmäßigkeiten hatte, hatte er auch eines für Momente, in denen Wahnsinn das Beste war. Jeder für sich richteten wir also unser Lager ein, mein Vater hatte aus einer Truhe im Arbeitsstall Schlafsäcke der Sloviks geholt, die dünn und muffig waren, aber das war egal. Wir lagen im Dreieck um die Stange, eine Öllampe brannte die ganze Nacht hinauf ins Dunkle. Wenn ich während dieser ersten Nacht aufwachte, legte ich mein Ohr an die Stange und lauschte, bei Nacht war es viel lauter. Ganz weit war ein gleichmäßiges Pochen, das es sonst nicht gab, mal näher, mal ferner. Es klang nicht nach den Steigeisen, heute würde ich sagen, es klang genau wie das, was man hört, wenn man eine Muschel ans Ohr hält. Es war mein eigener Pulsschlag, aber in dieser Nacht war es das Herz des Großvaters, das weit über uns klopfte, mal fern, mal nah.
    Im Morgenlicht rieselte immer noch feinstes Steinmehl herab. Mein Vater ging ein Fernglas suchen, dann stiegen wir an den Waldrand über dem Erdkeller, dort hatte man die Stange in ihrer ganzen Länge im Blick. Die untere Plattform war leer, das sahen wir genau, sie war ja nur wenig über den Dächern des Hofes. Die zweite Plattform, also jene, die den Opis und allen im Krieg als Ausguck gedient hatte, war in der Höhe deutlich schwerer zu erkennen. Mein Vater zielte sie lange mit dem Fernglas an, dann reichte er es an Lada und schüttelte sich die Augen aus. Lada nahm ihr Amt sehr ernst, noch mit den Linsen vor den Augen verkündete sie: »Da ist eine Wolke oder so was vor.« Dann durfte ich. Obwohl die Luft weit sichtig war und das ganze Land um Pildau lag wie sorgfältig ausgeschnitten, war rund um die zweite Plattform etwas wie eine kleine Wolke, ein Stück Nebel, eine Unschärfe, nur minimal, aber genug, um die Schemen der Stelle zu überdecken. Wir standen eine Weile mutlos.
    »Ist der Großvater verhimmelt?«, fragte ich später, als wir wieder auf dem Podest saßen. Erst langsam brachte ich die Aufregung, Großvaters Worte an der Wand und das Ereignis zusammen, erst fern fuhr mich ein Hauch der Endgültigkeit an, die alle anderen offenbar schon begriffen hatten, denn mein Vater ging kaum einen Schritt mehr gerade, und Lada, sie war wie Stein, Mund und Augen nur Schlitze, so saß sie, den Rücken an der Stange, auf ihrem Schlafsack, die Arme trotzig verschränkt.
    Mein Vater nahm sich zusammen. »Lieber Jasper, liebe Lada, wir müssen tatsächlich davon ausgehen, dass unser aller hier, ehm, Vater und Großvater eine, nun, etwas eigenmächtige Entscheidung getroffen hat, was sein weiteres Fortbestehen angeht. Wie ihr längst aus euren Büchern wisst, muss alles, was lebt, auch sterben. Für jeden von uns gibt es einen Todestag, irgendwo in der Zukunft liegt er schon, auf einem ungedruckten Kalender steht er bereits fest, für dich, Lada«, er machte eine kummervolle Pause. »Für dich, Jasper.« Wieder Schlucken und weiche Atemzüge. »Und für mich. Aber nur kleine Geister mäkeln an dieser Tatsache herum. Die Kunst besteht darin, gegen den Tod anzuleben.« Er bröckelte, brachte das Kinn nicht mehr von der Brust hoch. »Nicht vielen Menschen in der Geschichte ist es zugestanden gewesen, ihre, ehm, sagen wir also Verhimmelung in dieser beeindruckenden und nicht zuletzt sportlichen Art und Weise, an einem …«
    Hier brach die Rede ab, an dieser Stelle war Max Honigbrod endgültig in sich versunken, er kroch unter seinen Schlafsack, und alles, was wir daraus hörten, waren winzige Geräusche, die irgendwo zwischen den Augenlidern und dem Kehlkopf entstehen mussten. So saßen wir den ganzen Tag stumm, jeder die Füße in eine andere Himmelsrichtung ausgestreckt, den Kopf an der Stange, und das Seltsame ist, dass

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