Vorn
Undone von einer Party erfuhren,
gingen sie gemeinsam aus. Und der einzige Tag, den Emily und Tobias weiterhin fest miteinander verbrachten, war der Sonntag.
Die
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- Mitarbeiter blieben jetzt sogar spätabends oft im Büro, was damit zu tun hatte, dass dort seit kurzem ein TippKick-Tisch stand.
Nach dem Essen kehrten sie noch um zehn oder elf Uhr mit ein paar Flaschen Bier von der Tankstelle in die Redaktion zurück,
um ein Turnier zu spielen. Nach einem Artikel im
Vorn
über den offiziellen Weltmeister im TippKick hatte Ludwig über die kleine Firma im Schwarzwald, die dieses Spiel seit fast
hundert Jahren herstellte, einen Turniertisch |68| für die Redaktion besorgt – nicht die kleine Filzmatte zum Ausrollen, die in unzähligen Kinderzimmern lag, sondern einen richtigen
Holztisch mit Beinen. Er wurde in dem geräumigen Büro von Anne, Dennis und Tobias aufgestellt, und da dort von nun an ständig
Spiele und Turniere ausgetragen wurden, hieß es unter den
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- Leuten nur noch das »Spaßzimmer«. Tobias hatte das Spiel in seiner Kindheit exzessiv betrieben und deshalb am Anfang einen
Vorsprung vor den anderen. Doch Dennis war auch hier mit dem notwendigen Talent und Ehrgeiz ausgestattet, um schnell der Beste
zu werden; er löste Tobias nach einigen Wochen ab und war nun praktisch unbesiegbar. Die Ambition der beiden richtete sich
irgendwann darauf, etwas zu perfektionieren, was sie von dem Weltmeister des Spiels im
Vorn -
Interview gelesen hatten. Es ging darum, den vieleckigen schwarz-weißen Ball auf eine Weise anzuspielen, dass er immer auf
der eigenen Farbe liegen blieb, und dadurch den eigentlich auf Zufall beruhenden Charakter des Spiels zu eliminieren. »Farblegung«
hieß diese Methode, und nach und nach hatten sie es wirklich geschafft, den Ball mit dem Fuß der Spielfigur so anzuschneiden,
dass er kaum noch auf die Farbe des Gegners rollte. Eine Zeitlang hatten die TippKick-Partien so große Bedeutung im
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, dass die im Aufbau begriffene Online-Redaktion die Ergebnisse als einen der ersten Beiträge auf die Website des Heftes nahm.
Meistens endeten die abendlichen Turniere mit einem Endspiel zwischen Dennis und Tobias, das Dennis knapp gewann; den Zettel
mit den Ergebnissen gaben sie am nächsten Morgen den Online-Mitarbeitern, die sie abtippten und ins Netz stellten. Auf ein |69| TippKick-Spiel zwischen Dennis und Ludwig ging auch ein Wort zurück, das im
Vorn -
Magazin dann monatelang ständig zu hören war. Als Ludwig in dieser Partie das 1:5 oder 1:6 kassierte – durch eine direkt verwandelte Ecke, den größten Kunstschuss überhaupt beim TippKick –, rief er, die beiden ähnlichen
Worte in der Hektik durcheinanderbringend: »Was für ein Debaster!« Das Wort wurde im
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zur stehenden Wendung für jede Art von Enttäuschung oder Niederlage.
Tobias kam es vor, als würde nun, ein gutes Jahr nach dem Abschluss des Studiums, das Vorläufige seiner bisherigen Existenz
aufhören. Mit dem festen Eintritt in die Redaktion kurz nach dem Ende der Urlaubsvertretung kündigte er auch seinen Job im
Flüchtlingsheim, in dem er so viele Jahre gearbeitet hatte. Als Redakteur des
Vorn -
Magazins war er jetzt in der richtigen Welt angekommen, und er begriff seine Mitarbeit dort wirklich als eine Art Einschnitt,
einen Übergang in ein neues Leben. Alleine die Entscheidung, dass er nun zum ersten Mal seinen Vornamen nicht mehr abkürzte,
wenn er jemandem sagte, wie er hieß: Immer schon hatte er sich »Tobi« genannt, seit seiner Kindheit. (Er hätte nicht sagen
können, wann das begonnen hatte, aber es hing wahrscheinlich mit dem Fußball zusammen, wenn die Mitspieler ihm der Kürze halber
»Tobi steil!« oder »Tobi, spiel ab!« zuriefen.) Bis zum Ende des Studiums nannten ihn alle nur »Tobi«; »Tobias« sagten allenfalls
ein paar Verwandte. Schon nach den ersten Tagen als Autor beim
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kam ihm dieser Name jedoch unerwachsen vor, wie aus einer früheren Zeit, und er nutzte die plötzliche Erweiterung seines Bekanntenkreises,
um |70| die alte Form abzulegen. In der Redaktion war er von Anfang an nur »Tobias«. Er entwickelte auch rasch eine Unduldsamkeit
gegenüber jeder Art von Namensabkürzung. Langjährige Bekannte etwa, die sich noch mit Ende zwanzig mit ihren Spitznamen aus
der Jugendzeit anreden ließen, die meist aus Koseformen ihrer Nachnamen gebildet wurden, »Ecki«, »Steini«, »Poschi«, wirkten
jetzt fast lächerlich auf
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