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Vorn

Titel: Vorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bernard
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ihn. Die Plattenkritiken in dem kleinen Punk-Magazin, kurz vor seinen ersten Artikeln im
Vorn
, hatte er noch unter dem Namen »Tobi Lehnert« geschrieben. Genau in diesem Namenszug war nun, wenn er die Hefte wieder einmal
     durchblätterte, das ganze Provisorische seines früheren Lebens enthalten. Der ausgeschriebene Vorname, so viele Jahre lang
     als bieder, offiziell, als eine Silbe zu lang empfunden, kam ihm jetzt gerade richtig vor.
     
    Dass er zum ersten Mal ein richtiges Einkommen besaß, war eine Voraussetzung für seine Haltung. In der Unterkunft hatte er
     nach Studentenjob-Maßstäben immer gut verdient, vielleicht 1500 Mark im Monat. Doch nun bekam er allein für seinen Redakteursvertrag
     im
Vorn
, drei Tage in der Woche, weitaus mehr, und die einzelnen Artikel wurden sogar extra honoriert. Tobias dachte oft daran, wenn
     er für Dennis’ Rubrik ein kurzes Porträt schrieb: In den drei, vier Stunden, die diese so angenehme Arbeit beanspruchte, bekam
     er genauso viel Geld wie für eine ganze Schicht in der Unterkunft, und für einen langen Text im
Vorn
, eine Titelgeschichte etwa, wurde sogar 1200 oder 1500 Mark bezahlt. Wenn er damals in einer Bankfiliale seine Kontoauszüge
     ausdruckte und noch im Foyer die eingegangenen Honorare |71| auf den Zetteln durchging, durchströmte ihn jedes Mal ein Glücksgefühl. Tobias gefiel die Vorstellung eines erwachseneren
     und arrivierteren Lebens. Und es gab in seinen ersten Monaten in der Redaktion eine Fülle von neuen Gesten, Redewendungen,
     Verhaltensweisen, die für diesen Wandel standen. Etwa die Art, wie man im
Vorn
andere Menschen begrüßte. Von Dennis ging fast ein amerikanisches Maß an Aufmerksamkeit aus, wenn in den Redaktionsräumen
     oder auch im Nachtleben Leute aufeinandertrafen, die sich nicht alle kannten. Frauen wurden grundsätzlich mit Küsschen auf
     die Wangen begrüßt, und dann stellte Dennis diejenigen, die einander noch nie begegnet waren, ganz förmlich vor. Tobias war
     das aus seinen Bekanntenkreisen bislang nicht geläufig: Hätte er im Substanz oder auf einem Konzert von Undone ein Mädchen
     zur Begrüßung auf die Wangen geküsst, wäre das allen gekünstelt und fast ein wenig affig erschienen, und wenn an diesen Orten
     abends jemand zu einer Runde stieß, weil er vielleicht einen der Leute kannte, wäre niemand auf die Idee gekommen, alle mit
     Namen vorzustellen. Doch im
Vorn
war das anders – vielleicht auch deshalb, weil mit dem Vorstellen in Journalistenkreisen gleich auch die Zeitung oder Zeitschrift
     genannt werden konnte, bei der jemand arbeitete. »Das ist Tobias – Tobias Lehnert, auch vom
Vorn
«, sagte Dennis oft, wenn sie irgendwo zufällig andere Journalisten getroffen hatten. An einem Abend, als Emily ausnahmsweise
     zu einem Redaktionsessen mitgegangen war, kam es in der Königsquelle zu einer solchen Begrüßungsszene. Die
Vorn
- Leute entdeckten beim Hineinkommen eine ganze Gruppe von Hamburger Journalisten in der Ecke |72| gegenüber. Anne und Dennis kannten die meisten, weil sie regelmäßig für eine Frauenzeitschrift aus dieser Stadt Artikel schrieben,
     und als sich alle von ihren Plätzen erhoben und Küsschen tauschten, setzte Dennis zur großen Vorstellungsrunde an. Er musste
     die vier, fünf Leute an seiner Seite mit den ganzen Hamburgern bekannt machen, jedes Mal fiel ein Magazintitel hinter dem
     Namen – die eine arbeitete bei
Allegra
, der andere bei der
Woche
, dann die ganzen
Vorn -
Mitarbeiter natürlich –, und als Dennis zuletzt bei Emily landete, trat eine befremdliche Pause ein: »Und das ist Emily …–
     Äh, na ja, also die Freundin von Tobias. Was machst du eigentlich, Emily? Ich muss gestehen, das weiß ich gar nicht so genau?«,
     sagte er, den Schluss des Satzes, ohne eine Antwort abzuwarten, mit seinem charmanten Lachen überspielend. Und alle anderen
     fielen schnell ein, um die etwas peinliche Stockung zu lösen. Tobias aber sah in diesem Moment genau, wie unangenehm Emily
     das Ganze war.
     
    Mit der Arbeit in der Redaktion war für Tobias so etwas wie eine Professionalisierung seiner Lebensweise verbunden. Sie konnte
     sich in den unmerklichsten Reflexen äußern, wie etwa der Geste, dass man im Restaurant den anderen am Tisch sofort Mineralwasser
     nachschenkte, wenn das Glas fast leer war. Und sie betraf auch die Selbstverständlichkeit des Taxifahrens: Bevor Tobias zum
Vorn
gekommen war, hatte er dieses Verkehrsmittel nur selten benutzt. Höchstens wenn er einmal

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