Vorn
vormittags stattfanden, in bekannten |58| Münchner Kinos. Ohne jede Kontrolle wurde man in den Saal hineingelassen, konnte sich noch ein kostenloses Getränk am Kiosk
holen, und dann lief ein Film, der erst Wochen oder Monate später im regulären Kinoprogramm gezeigt werden würde. Tobias musste
an seine Amerika-Reisen mit Emily denken, bei denen es zum Schönsten gehörte, etliche Filme in den Kinos anzusehen, von denen
man wusste, dass sie erst mit großer Verzögerung in Deutschland anliefen. Nach ihrer Rückkehr war es dann immer ein besonderes
Gefühl, nach und nach die bereits bekannten Filme in den Werbeannoncen der Zeitungen angekündigt zu sehen, zum Teil mit kaum
widererkennbaren deutschen Titeln. Sie kamen sich dann immer etwas erhaben vor, wie jemand, der einen Wissensvorsprung vor
allen anderen hat. Als Tobias im
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zu arbeiten begann, schien es ihm, als bestünde der Reiz des Journalistenberufs darin, dauerhaft in diesem Gefühl zu leben.
Von allen Anknüpfungspunkten aber, die es im
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zwischen den Redakteuren gab, war der wichtigste der Fußball. Über das Thema wurde im Heft ohnehin ständig geschrieben, etwa
über die heiligen, unantastbaren zwei Stunden der Bundesliga-Berichterstattung am frühen Samstagabend. Robert hatte einen
Artikel einmal mit den Sätzen begonnen: »Es gibt zwei Katastrophen, wenn du ein Mädchen kennengelernt hast. Entweder sie ruft
nicht an. Oder sie ruft samstags zwischen sechs und acht an.« In anderen
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- Artikeln ging es um Panini-Sammelbilder und das eherne Gesetz, niemals die fehlenden Bilder beim Bestelldienst der Firma nachzuordern,
um die Form von Tornetzen auf Bolzplätzen |59| oder darum, nur die eleganten Adidas- und nicht die klobigen Puma-Fußballschuhe zu tragen (was dem Magazin eine bereits fest
vereinbarte, fast hunderttausend Mark einbringende Anzeigenkampagne der Firma Puma kostete). Und als in der Bundesliga die
Jubelposen der Spieler nach einem Tor immer origineller wurden, stellten Robert, Dennis und Tobias die wichtigsten unter ihnen
auf einer Doppelseite im
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nach.
Dass die Redakteure des Hefts selbst zusammen Fußball spielen würden, dass Robert, Dennis, Ludwig, Thomas und Tobias, der
Grafiker Ralf oder der zweite Pop-Redakteur Sebastian, der nach einer Diplomarbeits-Pause gerade wieder zurück in die Redaktion
gekommen war, eine Mannschaft bilden könnten – davon war aber bis dahin niemals die Rede gewesen. Eines Nachmittags im Frühling,
als die Heftproduktion früher als geplant abgeschlossen und nichts mehr zu tun war, fragte Tobias, ob man sich denn nicht
einmal verabreden solle, zum Beispiel unten an der Isar, wo auf einem Rasenstück zwei Fußballtore standen. Auf den Vorschlag
reagierten alle sofort mit Begeisterung; vor allem Dennis und Ludwig meinten, man müsse das gleich heute noch in die Tat umsetzen,
sonst werde es wieder wochenlang nichts werden.
Tobias erinnerte sich noch lange an jenen Moment eine Stunde später, als sie sich auf der holprigen Wiese am Fluss ihre Fußballsachen
anzogen, die Schuhe banden und sich einige Pässe zuspielten. Er hatte in seiner Schulzeit fast jeden Tag auf Bolz- und Vereinsplätzen
verbracht, und deshalb konnte er relativ schnell erkennen, |60| wie jemand Fußball spielte. Meistens reichte es aus, den Moment der ersten Ballannahme zu sehen, die Art, wie der Spieler
ihn mit dem Innenrist stoppte und dann weiterpasste, um einen sicheren Eindruck zu bekommen. Außerhalb von Fußballvereinen
traf man fast nie wirklich gute Spieler an. Egal ob in Universitätsteams, auf der Freibadwiese oder bei Fußballturnieren unter
Kneipenmannschaften: Die sogenannten Freizeitfußballer waren immer schon nach den ersten hölzernen Bewegungen zu erkennen,
an dem weit vom Fuß abprallenden Ball nach einem Zuspiel oder der unbeholfenen Haltung des Beines beim Stoppen einer hohen
Flanke. Als Tobias nun den Ball Richtung Ludwig und Dennis spielte, die sich schon warm gemacht und ein wenig gedehnt hatten
(ein ungewöhnliches Zeichen für Freizeitfußballer), geschah etwas Faszinierendes: Alle drei hatten, das war innerhalb von
Augenblicken klar, eine ähnlich professionelle Technik, waren offensichtlich Vereinsspieler in höheren Ligen gewesen. Natürlich
hatten sie sich in den Monaten zuvor manchmal über ihre gemeinsame Fußballervergangenheit unterhalten, hatten sich, wie wahrscheinlich
jeder dritte Freizeitspieler zwischen zwanzig und
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