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Vorn

Titel: Vorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bernard
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Fußballspielen am Donnerstagabend einmal vorschlug, noch dorthin zu |77| gehen. Man erkannte diese leichte Unsicherheit vieler Gäste bereits an dem betont vertraulichen Tonfall, in dem sie die Kellner
     anredeten. »Ach, Konrad, kannst du mir noch ein Bier bringen?«, rief einer, der an der Zwischenwand lehnte; »Milan, was gibt’s
     denn heute zum Essen?«, fragte ein anderer gleich nach dem Reinkommen: Es gab vermutlich kein anderes Lokal, in dem die Vornamen
     der Kellner so häufig fielen. Doch das Selbstverständliche dieser Zurufe hatte einen eigentümlichen Unterton; es war ihnen
     fast immer ein bestimmter Nachdruck, eine Art erzwungene Beiläufigkeit anzumerken. Im Klang der Anrede schwang die unterschiedlich
     ausgeprägte Selbstgewissheit der Gäste mit: an den Ecktischen hinten das Stammpublikum, dessen Bestellungen der raschen Erledigung
     sicher sein konnten; in den Gängen dagegen die brüchigeren Versuche der Umherstehenden, die vielleicht darauf warteten, einen
     der freien Tische zugewiesen zu bekommen. Gerade ihre Zurufe machten deutlich, welche Kraft das Aufrechterhalten des familiären
     Tons kostete. Im Gedränge war ihr Wunsch bereits zum zweiten oder dritten Mal ignoriert worden, und es erforderte ein hohes
     Maß an Disziplin, weiterhin ruhig und souverän zu klingen, wie jemand, der genau weiß, dass er dazugehört. Und genau das war
     vielleicht das Erstaunlichste an dieser Bar: Dass sie die Übersehenen ermutigte, immer wieder zu kommen, und die Umsorgten,
     zu vergessen, wie sie anfangs behandelt worden waren.
     
    Tobias kannte dieses Gefühl des Ignoriertwerdens allzu gut. An einem seiner ersten Abende dort war er |78| mit Robert verabredet gewesen und wusste noch nichts von dessen Angewohnheit, sich gerne um eine halbe Stunde zu verspäten.
     Er bekam damals nicht einmal sein Getränk. Konrad, ein altgedienter Kellner im Schumann’s, rannte im Gedränge Mal um Mal mit
     einem vollen Tablett vorbei – »Vorsicht!«, rief er mit seiner dunklen, voluminösen Stimme, mit langgezogenem V, um der Warnung
     den richtigen Nachdruck zu verleihen –, doch das seit längerem bestellte Pils war wieder nicht dabei. Auch als Tobias schon
     regelmäßiger Gast im Schumann’s war, blieb etwas von dieser Unsicherheit, wenn er etwa eine Freundin zum Essen einladen wollte.
     An der Eingangsschwelle waren sie noch in ein Gespräch vertieft, doch auf dem kurzen Weg in den hinteren Teil, wo er die ihm
     bekannten Kellner vermutete, brach es unvermittelt ab. Tobias war dann immer ein wenig angespannt; er ging einen halben Schritt
     voraus, behielt aber – wie zum Schutz – eine Hand am Arm seiner Begleiterin. Hinten, an der Zwischenwand mit dem Edward-Hopper-Bild,
     versuchte er möglichst rasch den Blick Konrads oder Milans zu gewinnen und hoffte, in dem bereits gut gefüllten Raum noch
     einen Sitzplatz zu bekommen. Während dieser kurzen Wartezeit wechselten die beiden kaum ein Wort; die Zeit stand still und
     konnte nur vom Losungswort des Kellners wieder in Gang gesetzt werden. Schließlich wurden sie bemerkt und an einen freien
     Tisch gebeten. Wie selbstverständlich nahm er dann seine Bekannte an der Hand, schlenderte quer durch den Raum, doch man hätte
     Tobias beim Hinsetzen anmerken können, dass er erst jetzt zum ersten Mal richtig ausatmete.
     
    |79| Im Lauf der Abende wurde die Atmosphäre in der kleinen Bar immer dichter und aufgeheizter. Oft kannten sich fast alle Gäste
     im hinteren Teil zumindest vom Sehen; Stühle wurden dazugestellt, Tische zusammengerückt, und irgendwann saß eine Gruppe von
     vielleicht fünfzehn Menschen in einer Ecke, die Bar-Tische übersät mit Pilsgläsern und feucht gewordenen Papieruntersetzern
     mit dem geschwungenen Schumann’s-Schriftzug. Einige bestellten auch etwas zu essen, obwohl Tobias in der Bar nie eine Speisekarte
     gesehen hatte. Am Ende des hinteren Raums, in einem uneinsehbaren Winkel, war die Küche, in der meistens der Besitzer des
     Lokals stand, eine eindrucksvolle Gestalt mit langen grauen Haaren und sonnengegerbter Haut, egal, zu welcher Jahreszeit.
     Es gab immer ein paar feste Gerichte, Roastbeef mit Bratkartoffeln, Steaks, Kräuterquark oder einen »Fernsehteller«, wie die
     Kombination aus Roastbeef-, Schinken- und Käsebroten aus rätselhaften Gründen hieß. (Ein Kellner meinte einmal, der Name stamme
     aus der Anfangszeit der Bar, als es in Deutschland nur drei Fernsehprogramme gab.) Wenn sonntags ein österreichischer

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