Vorn
bevorstehenden Moderationscastings
und Fernsehpraktika an. Niemand konnte also leugnen, dass hier eine vollkommen neue Generation auftrat, Mädchen, die sich
schon mit neunzehn ihrer Sache sicher waren. Andererseits – und diese Frage durfte man nicht unterschlagen: Wie wäre es einem
27-Jährigen Ende der achtziger Jahre ergangen? Hätte er ein ebenso ernüchtertes Urteil über diese Abiturientinnen abgegeben
wie die damaligen Klassenkameraden all der Monikas, Heikes und Sabines? (Allein die Namen! Die Schülerinnen auf diesem Foto
hießen Laura, Naomi, Aileen, Theresa.) Oder hätte bei ihm nicht auch sofort jener Begeisterungsreflex eingesetzt wie bei Tobias
heute. Auf einer Redaktionskonferenz regte er kurz nach diesem Abend an, im
Vorn
einen solchen Bildvergleich zu unternehmen; Tobias wollte einfach sein altes Klassenfoto und das Bild der Praktikantin nebeneinanderstellen
und eine kleine Abhandlung über den Widerstreit schreiben, der ihn beschäftigte. Der Redaktionsleiter lehnte diesen Themenvorschlag
aber als zu speziell ab.
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Im
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- Magazin gab es immer einige Praktikanten, die für die Dauer von zwei oder drei Monaten in der Redaktion mitarbeiteten. Die
meisten von ihnen waren weiblich, und jedes Mal, wenn wieder neue Praktikanten erwartet wurden, herrschte unter den männlichen
Redakteuren eine leichte Spannung. Manchmal sagte einer, er habe das Bewerbungsfoto zufällig auf dem Schreibtisch in Thomas’
Büro gesehen – »da können wir uns auf was gefasst machen«. Die Praktikantinnen des Magazins stammten meistens aus ähnlichen
Familienverhältnissen. Ihre Eltern hatten die Tageszeitung, der das
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beilag, schon lange abonniert und ihnen das Heft seit Jahren montags herausgelegt. Sie waren daher auffallend oft Mädchen
aus akademischem Elternhaus, Arzt- oder Rechtsanwaltstöchter, die in einem der ersten Semester Literatur studierten oder die
Journalistenschule besuchten.
Wenn die Redakteure am ersten Montag eines Monats ins Büro kamen, saßen die neuen Praktikanten, von Thomas kurz eingewiesen,
schon eine Zeitlang an ihren Plätzen, von denen sich einer auch im Zimmer von Tobias, Dennis und Anne befand. Sie waren natürlich
pünktlich um halb zehn, zum offiziellen Arbeitsbeginn, in der Redaktion gewesen, so wie bei der Einstellung vereinbart. (In
irgendeiner früheren
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- Ausgabe hatte |100| es sogar einmal einen Artikel über Praktika gegeben, der mit dem Hinweis begann, dass man am ersten Tag niemals, unter gar
keinen Umständen, zu spät am Arbeitsplatz eintreffen dürfe.) Tatsächlich tauchten fast alle Redakteure aber erst zwischen
zehn und halb elf auf. Tobias traf den Neuankömmling hinten links im Zimmer dann ein wenig verloren an. In der guten halben
Stunde, in der die Praktikanten in den leeren Räumen warten mussten, hatten sie sich bestimmt gewundert, warum noch keiner
der Redakteure erschienen war. In ihren Büros waren sie vermutlich an den Regalen entlanggegangen, hatten sich ein paar alte
Vorn
- Ausgaben angesehen, die sich ungeordnet in den Fächern stapelten, und sich dann mit einer herumliegenden
Allegra
oder
Cosmopolitan
an den Schreibtisch gesetzt. Tobias bemerkte beim Eintreten immer die leichte Irritation auf dem neuen Gesicht, sofort nach
der Begrüßung allein gelassen worden zu sein; der Redaktionsleiter hatte in seinem Büro noch die Montagskonferenz um elf Uhr
vorzubereiten, und außerdem war er ohnehin kein großer Redner, der den Praktikanten eine wortreiche Einführung gegeben hätte.
Wenn man bedachte, wie lange die Bewerber auf ihre Stelle gewartet hatten, musste dieser Anfang, dieses Sich-selbst-Überlassen-Werden
gleich in der ersten Stunde befremdlich auf sie wirken. Andererseits waren die Praktikanten fast immer langjährige Fans des
Magazins und freuten sich darauf, die
Vorn
- Redakteure endlich einmal persönlich kennenzulernen, und deshalb wich ihre Unschlüssigkeit sofort einer großen Neugier, wenn
die ersten Mitarbeiter auftauchten und sie begrüßten.
|101| Offiziell vorgestellt wurden die neuen Praktikanten zu Beginn der Redaktionskonferenz am Montagvormittag. Thomas bat sie in
dem schmalen, immer völlig überfüllten Konferenzraum, etwas über ihre bisherige Ausbildung und ihre Interessensgebiete zu
sagen, was sie gewöhnlich mit wenigen Worten und brüchiger Stimme taten. Die meisten von ihnen waren ja zuvor nur an der Journalistenschule
oder Universität
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