Vorn
ihrem Büro fast mit der Routine
von Naturwissenschaftlern, die aus langjähriger Laborerfahrung vorhersagen können, dass ein häufig wiederholtes Experiment
mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder das erwartete Ergebnis hervorbringen wird. Es war eine unfaire Konstellation, denn für
das Mädchen eröffnete sich gerade eine neue Welt, während sie mit der ruhi-gen Souveränität der Statistiker an die Sache gingen.
Sie konnten fest damit rechnen, dass sich im Laufe des Praktikums ein Flirt oder sogar eine Affäre mit jemandem aus dem
Vorn
- Umfeld ergeben würde.
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Die große Einmütigkeit unter den Mitarbeitern des Magazins fiel besonders den Besuchern von außen auf. An einem Nachmittag
kam etwa Johannes Veith in die Redaktion, weil er gerade an einem Artikel für das Heft schrieb und noch etwas mit der Grafik
absprechen wollte. Er unterhielt sich mit ein paar Leuten in den hinteren Büros, kam dann zu Dennis, Robert und Tobias zurück,
die im Flur zusammenstanden, und irgendwann schüttelte er lachend den Kopf und rief: »Hey, ihr redet ja alle vollkommen gleich,
das gibt’s doch überhaupt nicht!« Die anderen sahen ihn etwas irritiert an, doch Johannes sagte: »Ja, hört ihr das nicht?
Vorhin schon die Grafiker, und jetzt auch ihr: Alle haben hier diese komische Sprache, so einen langgezogenen Singsang.« Tobias
erinnerte sich daran, dass er das bei seinen ersten Besuchen im
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auch bemerkt hatte. Besonders bei Robert war dieser bedächtige, aber melodiöse Tonfall im Sprechen ausgeprägt; wenn er am
Telefon mit einem freien Autor oder der PR-Mitarbeiterin einer Plattenfirma redete, hörte man ihn immer wieder ein nasales
»Verstehe« sagen, als leicht ironischen Kommentar zu einem vermutlich ambitioniert vorgetragenen Themenvorschlag. Oder er
begann seine Sätze mit einem »Ja, mal sehn«, das erste und dritte Wort in die Länge gezogen, um dem Anrufer dann eine unverbindliche
Antwort zu geben. Später fiel Tobias |108| dieser exzessive Gebrauch des Wortes »Verstehe« auch bei Felix Mertens auf. Es signalisierte immer eine distanzierte Haltung
im Gespräch; vor allem weitschweifende oder ein wenig prätentiös formulierte Anliegen wurden mit dieser Wendung abgefertigt.
Felix war ein Meister darin, den Redefluss seines Gegenübers ins Stocken zu bringen. Es konnte passieren, dass ein Redakteur
ihn zu einem bestimmten Artikel überreden wollte, ihm wortreich die Originalität des Themas nahelegte, und wenn er seinen
Vortrag beendet hatte, nickte Felix nur, schob seine Brille zurecht und sagte »Verstehe«, so gedehnt wie möglich. Dann schwieg
er, sekundenlang, und die Sätze des anderen versickerten langsam im Nichts.
Es gab unter den
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- Leuten eine zweite Wendung, die auf ähnliche Weise für Distanz sorgte, der Einschub »sogenannt« vor der Erwähnung eines Menschen
oder einer Sache. »Die sogenannte Rabea von Edel Records hat schon wieder angerufen«, sagte Robert, wenn er sich über eine
hartnäckige Pressefrau lustig machte, oder: »Einer von der
Woche
bietet einen sogenannten Essay über TripHop an.« Mit diesem Einschub setzte man die Namen und Gegenstände in Anführungszeichen,
sprach ihnen jede Autorität oder Relevanz ab. Das Wort diente aber auch als Hinweis darauf, dass man sich in seiner eigenen
Rede der Phrasenhaftigkeit eines Ausdrucks bewusst war. »Das Golden Goal lag ja wirklich nicht in der sogenannten Luft«, hatte
Dennis etwa am Morgen nach dem entscheidenden Tor von Oliver Bierhoff in EM-Endspiel gesagt. Mit der Zeit nahm die Empfindlichkeit
gegenüber jedem Hauch einer Floskel |109| im
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aber derart überhand, dass das Füllwort fast in jedem zweiten Satz der Redakteure vorkam. Der Gebrauch der Wendung ließ daher
schon bald wieder nach.
Niemand konnte Johannes Veith an diesem Tag Auskunft geben, wie es im
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zu der eigenartigen Sprachmelodie gekommen war, die sogar ein wenig auf die Redeweise der Sekretärinnen und Marketing-Leute
im vorderen Teil der Redaktion abgefärbt hatte. Irgendwann klärte ein ehemaliger
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- Mitarbeiter das Rätsel Tobias gegenüber auf. Die Entstehung dieses Tonfalls hatte einen überraschend praktischen Hintergrund
und hing damit zusammen, dass Felix Mertens – auch hier wieder der maßgebliche Impuls – ursprünglich aus Stuttgart nach München
gekommen war, um an der Journalistenschule zu studieren. Er hatte damals offenbar einen deutlichen schwäbischen
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