Vorn
zusammen. Sie hatten schon einiges getrunken, als sie eines der Mädchen
entdeckten, die in den Zelten mit Sofortbildkameras durch die Reihen gehen und zu überteuerten Preisen Bilder |88| von den Gästen anbieten. Alle am Tisch fanden die Fotografin so bezaubernd, dass sie eine halbe Stunde lang bei ihnen blieb
und unzählige Fotos von der Runde machen musste. Ludwig war dann der Erste, der unbedingt auch zusammen mit ihr aufs Bild
wollte; er überredete sie, die Kamera für einen Moment Fanny von Graevenitz zu leihen, und Fanny fotografierte dann auch fast
alle anderen
Vorn
- Redakteure mit dem Mädchen. Am Ende war der halbe Biertisch mit Polaroidbildern in herzförmigen Papierrahmen bedeckt; die
Aktion kostete den Verlagsleiter des
Vorn
- Magazins mehrere hundert Mark. Als sich die Fotografin gerade verabschieden wollte, ging Tobias noch einmal zu ihr und fragte
sie, ob sie Lust habe, mit ihm essen zu gehen, wenn das Oktoberfest vorbei sei. Sie sagte tatsächlich Ja, und als er sie nach
ihrer Telefonnummer fragte, nahm sie einen Stift aus ihrer Tasche und schrieb hinten auf ihr gemeinsames Foto: »Julia 52 45 62 .«
»Und dann heißt die auch noch Julia, ich fass es nicht«, sagte Robert am nächsten Tag, als er bei Tobias am Schreibtisch saß
und sich noch einmal das Foto ansah, das neben dem Computer stand. Die meisten anderen Bilder aus dem Bierzelt hingen im Sekretariat
des Verlagsleiters. Tobias wartete bis zum dritten Tag nach dem Ende des Oktoberfests, dann rief er sie an, und weil ihm noch
kein richtiges Lokal eingefallen war, verabredeten sie sich für den Abend darauf am Rotkreuzplatz, in der Nähe des Hauses,
wo Julia offenbar noch bei ihren Eltern wohnte. In den Stunden vor dem Treffen überlegte Tobias, wohin sie zum Essen gehen
könnten; er ging in seinem Kopf die Restaurants durch, |89| die er in der Gegend kannte. Gegen sieben brachen Dennis, Robert und Ludwig von der Redaktion aus ins Schumann’s auf und sagten
ihm, er könne ja noch nachkommen, wenn er wolle, sie blieben bestimmt lange. Tobias, der sich schließlich für das Freiheit
an der Landshuter Alle entschieden hatte, fuhr eine halbe Stunde später mit der U-Bahn zum Rotkreuzplatz. Julia sah immer
noch so unglaublich gut aus wie in seiner Erinnerung, hatte ihre Frisur mit mehreren Haarspangen zusammengehalten, und ihre
Fingernägel waren mit kleinen weißgelben Blüten lackiert. Als sie jedoch im Restaurant die Speisekarte ungelesen zur Seite
legte und sagte: »Ich werde eh nur einen kleinen Salat essen«, ließ Tobias’ Begeisterung schlagartig nach, und die Unterhaltung
war dann auch so mühsam, dass Tobias im Reden ständig neue Themen für sich durchging, um die Pausen möglichst reibungslos
auszufüllen. Um dreiviertel zehn saß er schon im Taxi zum Schumann’s, und als er im hinteren Teil der Bar auftauchte, war
seinen Kollegen natürlich sofort klar, dass der Abend ein Reinfall gewesen sein musste. Dennis schaute demonstrativ auf seine
nicht existente Armbanduhr, brach in lautes Gelächter aus; Tobias rief nur »Ein Debaster!« und bestellte bei Konrad ein Pils.
[ Menü ]
|91| 7
Tobias war in den Monaten vor seinem ersten Artikel immer wieder aufgefallen, wie hübsch die Gesichter waren, die im
Vorn
- Magazin auftauchten. Sie sahen sich auch alle ein wenig ähnlich. Auf einem Cover kurz vor jenem Sonderheft über Liebe war
etwa ein blondes Mädchen abgebildet, in Nahaufnahme, mit unbeteiligtem, fast schläfrigem Blick und einem unglaublich schönen
Mund. Am Wochenende nach dem Erscheinen des Hefts glaubte Tobias sie auf einem Münchner Flohmarkt hinter einem Verkaufsstand
zu erkennen, und er war kurz davor, sie anzusprechen, traute sich dann aber nicht. »Ja, klar«, hatte Stefan, mit dem er unterwegs
war, damals nur gesagt, »wieder so eine Hübsche mit weichen Gesichtszügen, bei der man nicht weiß, ob sie jetzt besonders
unbedarft oder besonders arrogant ist.«
Dass Tobias gerade das Typische so faszinierte, hatte er lange Zeit nicht von sich gekannt. Sein Interesse an einem Mädchen
war, wenn er jetzt zurückdachte, immer von etwas Unverwechselbarem, von einem Überraschtwerden ausgegangen. Als er mit sechzehn,
siebzehn seine ersten Freundinnen kennenlernte, wäre er nie auf die Idee gekommen, dass sie ihm gefielen, weil sie einem bestimmten
Typ entsprachen; sie sahen einander auch überhaupt nicht ähnlich. Das Einzige, was sie in Tobias’ Augen
Weitere Kostenlose Bücher