Vorn
einem von ihnen nur bis zu jenem kritischen Punkt nahezukommen – dem Moment, in dem
sich die makellose Oberfläche des Typischen zu trüben begänne und sich die ersten Unreinheiten des Individuellen zeigen würden.
Sogar der Duft der Mädchen ließ die Möglichkeit einer solchen Phantasie ja zu. Jede Zweite zwischen achtzehn und fünfundzwanzig
benutzte gerade »Angel« von Thierry Mugler, ein Parfüm, dessen schweres, synthetisches Vanillearoma so intensiv war, dass
es den eigenen Geruch vollkommen überdeckte; alle Mädchen, die »Angel« verwendeten, rochen genau gleich. Tobias überlegte,
ob er im
Vorn
nicht |95| einmal über die Eröffnung eines neuen H&M-Ladens in der Fußgängerzone schreiben sollte oder über die großen Mädchenrunden
an den Tischen bei McDonald’s am Stachus, am frühen Nachmittag. Bei der Recherche zu dieser Reportage, so dachte er, würde
er womöglich ein solches Mädchen kennenlernen, und dass die meisten von ihnen einen völlig anderen Hintergrund hatten als
er und in seinem gewohnten Umfeld nie auftauchen würden, erhöhte die Chancen vielleicht noch.
In Tobias hielt sich diese Sehnsucht über Monate hinweg. Sie wurde auch davon getragen, dass Emily dem Mädchentyp, dem er
nun hinterherhing, so wenig entsprach. Er bemerkte mehr und mehr, dass ihm etwas fehlte. Sex spielte zwischen ihnen schon
länger keine große Rolle mehr; an ihren Körpern, taub vor Gewohnheit, gab es kaum noch eine frische, empfängliche Stelle.
Die Berührungen zwischen ihnen, die eher ein Abtasten als ein Streicheln waren, kamen ihm manchmal vor wie die Anstrengungen
eines langjährigen Junkies, der keine brauchbare Vene mehr findet. Eine Art Zwiespalt bürgerte sich in seinem Leben ein: auf
der einen Seite die Liebesgeschichte mit Emily, auf der anderen all die Gesichter, die in seiner Wahrnehmung nicht so sehr
als Einzelpersonen existierten, sondern als Ansammlung schwärmerischer Bilder.
Und Tobias stellte sich manchmal die Frage, ob die Mädchen nun, in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, tatsächlich um
so vieles besser aussahen als in seiner Schulzeit oder ob sich nur seine Perspektive geändert hatte. Lag es einfach in der
Natur der Dinge, dass er mit |96| sieben undzwanzig fast jede Abiturientin des aktuellen Jahrgangs toll fand, in der Erinnerung an seine eigene Kollegstufe
aber nur unscheinbare Mauerblümchen ausmachte – oder waren die Mädchen innerhalb dieser Zeit wirklich objektiv hübscher geworden?
Als ihm eine neue
Vorn
- Praktikantin einmal eine nur wenige Monate alte Aufnahme ihres Deutsch-Leistungskurses zeigte (er hätte auf den ersten Blick
drei bis fünf weitere Mädchen sagen können, die ihm gefielen), wollte er es genau wissen und suchte nach dem Heimkommen ein
paar alte Klassenfotos aus seiner Abiturzeit heraus. Er legte sie vor sich auf den Boden und rief sich zum Vergleich das Foto
der Praktikantin in Erinnerung. Kein Zweifel, die Unterschiede waren eklatant! Wie sahen die Mädchen 1988 nur aus? Die meisten
von ihnen hatten Dauerwellen oder formlos nach unten fallende lange Haare. Sie trugen buntgemusterte Wollpullover über Rüschenblusen,
dazu Faltenröcke oder Karottenhosen, Jeansjacken mit Schulterpolster und – allen Ernstes – braune Lederblousons. Bei den Mädchen
in der ersten Reihe konnte man außerdem Schuhe und Strümpfe erkennen: klobige Turnschuhe, dazu weiße Söckchen, im besten Falle
hatte eine von ihnen Desert-Boots von Clark an. Doch es waren nicht nur die Kleidungsstücke, die berüchtigten Geschmacksvorlieben
der achtziger Jahre, die Tobias so befremdeten. (Wahrscheinlich lag der Unterschied ohnehin nur darin, dass den Abiturientinnen
in Deutschland 1988 noch kein H&M zur Verfügung gestanden hatte.) Auch in den Gesichtern selbst war nichts als Trägheit und
Ereignislosigkeit zu lesen. Dagegen das Bild vom Leistungskurs der
Vorn
- Praktikantin, die Souveränität, mit der mindestens ein Drittel der Mädchen |97| posierte, mit engen Trägertops und Sonnenbrillen im Haar. Vollkommen anders auch die Körperhaltung: Nichts mehr erinnerte
hier an das schüchterne Sich-abfotografieren-Lassen, mit verschränkten Armen, wie es auf den Klassenfotos Ende der Achtziger
Standard gewesen war. Die Mädchen lächelten den Fotografen selbstbewusst an, hatten ein ganz anderes Verhältnis zur Kamera;
vermutlich sahen manche von ihnen das Abiturfoto schon als erste Übungseinheit für die
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