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Vorn

Titel: Vorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bernard
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einem von ihnen nur bis zu jenem kritischen Punkt nahezukommen – dem Moment, in dem
     sich die makellose Oberfläche des Typischen zu trüben begänne und sich die ersten Unreinheiten des Individuellen zeigen würden.
     Sogar der Duft der Mädchen ließ die Möglichkeit einer solchen Phantasie ja zu. Jede Zweite zwischen achtzehn und fünfundzwanzig
     benutzte gerade »Angel« von Thierry Mugler, ein Parfüm, dessen schweres, synthetisches Vanillearoma so intensiv war, dass
     es den eigenen Geruch vollkommen überdeckte; alle Mädchen, die »Angel« verwendeten, rochen genau gleich. Tobias überlegte,
     ob er im
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nicht |95| einmal über die Eröffnung eines neuen H&M-Ladens in der Fußgängerzone schreiben sollte oder über die großen Mädchenrunden
     an den Tischen bei McDonald’s am Stachus, am frühen Nachmittag. Bei der Recherche zu dieser Reportage, so dachte er, würde
     er womöglich ein solches Mädchen kennenlernen, und dass die meisten von ihnen einen völlig anderen Hintergrund hatten als
     er und in seinem gewohnten Umfeld nie auftauchen würden, erhöhte die Chancen vielleicht noch.
     
    In Tobias hielt sich diese Sehnsucht über Monate hinweg. Sie wurde auch davon getragen, dass Emily dem Mädchentyp, dem er
     nun hinterherhing, so wenig entsprach. Er bemerkte mehr und mehr, dass ihm etwas fehlte. Sex spielte zwischen ihnen schon
     länger keine große Rolle mehr; an ihren Körpern, taub vor Gewohnheit, gab es kaum noch eine frische, empfängliche Stelle.
     Die Berührungen zwischen ihnen, die eher ein Abtasten als ein Streicheln waren, kamen ihm manchmal vor wie die Anstrengungen
     eines langjährigen Junkies, der keine brauchbare Vene mehr findet. Eine Art Zwiespalt bürgerte sich in seinem Leben ein: auf
     der einen Seite die Liebesgeschichte mit Emily, auf der anderen all die Gesichter, die in seiner Wahrnehmung nicht so sehr
     als Einzelpersonen existierten, sondern als Ansammlung schwärmerischer Bilder.
     
    Und Tobias stellte sich manchmal die Frage, ob die Mädchen nun, in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, tatsächlich um
     so vieles besser aussahen als in seiner Schulzeit oder ob sich nur seine Perspektive geändert hatte. Lag es einfach in der
     Natur der Dinge, dass er mit |96| sieben undzwanzig fast jede Abiturientin des aktuellen Jahrgangs toll fand, in der Erinnerung an seine eigene Kollegstufe
     aber nur unscheinbare Mauerblümchen ausmachte – oder waren die Mädchen innerhalb dieser Zeit wirklich objektiv hübscher geworden?
     Als ihm eine neue
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- Praktikantin einmal eine nur wenige Monate alte Aufnahme ihres Deutsch-Leistungskurses zeigte (er hätte auf den ersten Blick
     drei bis fünf weitere Mädchen sagen können, die ihm gefielen), wollte er es genau wissen und suchte nach dem Heimkommen ein
     paar alte Klassenfotos aus seiner Abiturzeit heraus. Er legte sie vor sich auf den Boden und rief sich zum Vergleich das Foto
     der Praktikantin in Erinnerung. Kein Zweifel, die Unterschiede waren eklatant! Wie sahen die Mädchen 1988 nur aus? Die meisten
     von ihnen hatten Dauerwellen oder formlos nach unten fallende lange Haare. Sie trugen buntgemusterte Wollpullover über Rüschenblusen,
     dazu Faltenröcke oder Karottenhosen, Jeansjacken mit Schulterpolster und – allen Ernstes – braune Lederblousons. Bei den Mädchen
     in der ersten Reihe konnte man außerdem Schuhe und Strümpfe erkennen: klobige Turnschuhe, dazu weiße Söckchen, im besten Falle
     hatte eine von ihnen Desert-Boots von Clark an. Doch es waren nicht nur die Kleidungsstücke, die berüchtigten Geschmacksvorlieben
     der achtziger Jahre, die Tobias so befremdeten. (Wahrscheinlich lag der Unterschied ohnehin nur darin, dass den Abiturientinnen
     in Deutschland 1988 noch kein H&M zur Verfügung gestanden hatte.) Auch in den Gesichtern selbst war nichts als Trägheit und
     Ereignislosigkeit zu lesen. Dagegen das Bild vom Leistungskurs der
Vorn
- Praktikantin, die Souveränität, mit der mindestens ein Drittel der Mädchen |97| posierte, mit engen Trägertops und Sonnenbrillen im Haar. Vollkommen anders auch die Körperhaltung: Nichts mehr erinnerte
     hier an das schüchterne Sich-abfotografieren-Lassen, mit verschränkten Armen, wie es auf den Klassenfotos Ende der Achtziger
     Standard gewesen war. Die Mädchen lächelten den Fotografen selbstbewusst an, hatten ein ganz anderes Verhältnis zur Kamera;
     vermutlich sahen manche von ihnen das Abiturfoto schon als erste Übungseinheit für die

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