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Vorn

Titel: Vorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bernard
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Mitarbeiter vom Tisch aufstanden und sich im Cafeteria-Bereich der Kantine verteilten, war immer gut geeignet, um die neue
     Praktikantin zum ersten Mal alleine zu treffen. »Gehst du noch einen |104| Kaffee mittrinken?«, fragte Tobias. »Hier um die Ecke gibt’s so eine Espressobar, die hat vor kurzem aufgemacht.« Und wenn
     sie fünf Minuten später in dem schlauchartigen Raum standen und einen Cappuccino oder ein neues Getränk namens Latte Macchiato
     vor sich hatten, nahm die Unterhaltung fast immer denselben Verlauf. Sie redeten kurz über die ersten Eindrücke der Praktikantin,
     wie es ihr beim
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so gefalle, und irgendwann brachte Tobias das Gespräch auf die Art und Weise, wie die Leute in solchen Bars ihre Bestellungen
     formulierten. »Eins ist natürlich klar: Man darf in einer Espressobar niemals Italienisch reden«, sagte Tobias. Er erzählte
     von den peinlichen Verrenkungen vieler Besucher, die ein paar italienische Sprachbrocken zusammensammelten, um »due cappuccini,
     Francesco« zu ordern, und »una torta della nona«. »Beim Bezahlen«, so Tobias, »legen sie zwei Scheine in die Schale an der
     Kasse und sagen lässig: ›Mach’ ma dodici, Francesco!‹« Es kam dann meistens zu dem Moment, dass Tobias darlegte, wie man an
     diesem Ort unter Wahrung der eigenen Würde zwei Tassen Espresso bestellen könne: »Es ist gar nicht so leicht: ›Zwei Espressi‹
     verbietet sich aus naheliegenden Gründen, genauso wie ›due caffè‹; ›zwei Espressos‹ wiederum klingt zu provinziell, ›zwei
     Espresso‹ so, als würde etwas fehlen. Es bleibt also nur die Möglichkeit, jedes Mal aufs Neue den Vergesslichen zu spielen
     und zu sagen: ›einen Espresso, bitte … äh, und noch einen‹.« Die Praktikantin musste lachen über diese Geschichte, und das
     Treffen endete gewöhnlich mit Tobias’ Anregung, man könnte im
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ja mal zusammen einen Artikel über das Phänomen schreiben.
     
    |105| Die leichte Trostlosigkeit der Unterhaltungen bestand natürlich darin, dass sich die Rituale über Monate hinweg kaum änderten;
     das Espresso- oder Vornamenthema wurde in dieser Zeit für fast jede Praktikantin aufs Neue herangezogen. Robert, Dennis und
     Tobias spulten ein erprobtes Repertoire ab, so wie Straßenkünstler in der Fußgängerzone oder routinierte Frontmänner einer
     Rockband, die sich sicher sein können, dass die anwesenden Zuschauer nur für eine einzige Vorstellung ihr Publikum bilden.
     Auch die
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- Redakteure gaben – halb aus Berechnung, halb aus Selbstvergessenheit – immer wieder dasselbe kaum variierte Programm zum Besten,
     als wäre es das allererste Mal.
     
    Doch nicht nur die Strategien waren vorhersehbar. Auch der Erfolg ihrer Bemühungen, die neue Praktikantin für sich einzunehmen,
     stellte sich beinahe mit der gleichen Zwangsläufigkeit ein. Denn es hatte etwas Unausweichliches, dass sich das neue Mädchen
     in den aufregenden
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- Kosmos hineinziehen ließ. Fast immer kamen die Praktikantinnen ja aus einer anderen Stadt; außerhalb der Redaktion kannten
     sie kaum jemanden, waren in einer WG untergekommen oder in einem Vorort bei Verwandten. Die zwei, drei Monate in München waren
     jeden Tag von früh bis spät durch das
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geprägt, und auch ihr eigentliches Leben zu Hause geriet im Lauf der Zeit mehr und mehr in den Hintergrund. Dennis und Tobias
     konnten das im Spaßzimmer etwa an der Art sehen, wie die Praktikantinnen, die einen Freund hatten, mit ihm umgingen. In den
     ersten Tagen sahen sie die neue Bürokollegin häufig am Arbeitsplatz mit ihm telefonieren – Handys waren |106| noch nicht verbreitet –; sie hatte ihm, gleich am ersten Vormittag, die Durchwahl ihres Apparats gegeben. Dass es ein besonderes
     Telefonat sein musste, war immer daran erkennbar, dass sich die Praktikantin an ihrem Schreibtisch mit dem Hörer in der Hand
     ein wenig von den anderen wegdrehte. Mit leiser Stimme sprach sie mit ihm, erzählte von den ersten Aufgaben, die sie übernommen
     hatte, und wie spannend alles war. Nach einigen Wochen wurden diese Telefonate spärlicher, und irgendwann, wenn es klingelte,
     konnte man sich fast sicher sein, dass sie ihn abwimmelte und sagte: »Nee, jetzt geht’s grad nicht so gut. Ich ruf dich später
     zurück, okay?«, um weiter mit einem Redakteur an einem Text zu arbeiten oder sich an einer Unterhaltung über den letzten Abend
     im Schumann’s zu beteiligen. Dennis und Tobias beobachteten das Verhalten der Praktikantinnen in

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