Vorn
vielleicht verband,
war, dass sie |92| ihm alle besonders selbstbewusst vorkamen, wie starke Persönlichkeiten. Die Mädchen verkörperten aber kein Bild, das er vor
sich gehabt hätte. Bei Emily war es dann genauso: Dass sie ihm in dem Betreuerteam der Unterkunft auffiel, hatte damals vor
allem mit der souveränen Art zu tun, mit der sie als Sprecherin des Teams die Arbeit koordinierte.
Irgendwann – er war vielleicht dreiundzwanzig oder vierundzwanzig – änderte sich das. Es bildete sich in seinen Vorstellungen
ein bestimmter Typ heraus, jünger als er, der ihn begeisterte. Wenn er jetzt ein Mädchen sah, das ihm gefiel, in einer Kneipe,
den Gängen der Universität oder der Fußgängerzone, dann musste nichts mehr Einzigartiges ausgehen von ihr. Ihn zog nun eher
so etwas wie die Silhouette des Mädchens an, ein kurzes Aufscheinen, das gar nichts mit der persönlichen Eigenart zu tun hatte.
Jahrelang hätte Tobias auf die notorische Frage, welchen Typ Frau er möge, nichts zu sagen gewusst. Mittlerweile wäre sie
für ihn jedoch leicht zu beantworten gewesen; er hätte einfach auf das
Vorn
- Cover mit der Flohmarkt-Verkäuferin deuten können, auf die Bierzelt-Fotos von Julia oder auch auf das Mädchen, das immer am
Ende des Werbespots für die Dresdner Bank auftauchte und »Das ist doch nicht normal für eine Bank« sagte. Tobias hätte diesen
Typ vermutlich beschreiben können, an der Form der Lippen, der Länge der Haare, der Größe der Brüste. Aber das waren vielleicht
schon zu persönliche Attribute. Denn am stärksten zogen ihn Gesten und Accessoires an, die ganz von der einzelnen Person abgelöst
waren und in denen sich eher – er wusste kein besseres |93| Wort – das Mädchentum selbst offenbarte. Die Art etwa, wie sich eine
Vorn
- Mitarbeiterin manchmal den Pferdeschwanz neu band: Wie sie den Haargummi abnahm und über das Handgelenk streifte, die Haare
bündelte, um dann mit raschen, geübten Bewegungen das Gummiband wieder von der Hand zu ziehen und die Haare darin zu verknoten.
Tobias war empfänglich für solche Äußerlichkeiten; es reichte oft nur ein bestimmtes Detail der Kleidung aus: ein Spaghettiträger-Top
mit schwarzem BH darunter, die beide über den Schultern leicht verrutscht waren und nicht mehr deckungsgleich übereinanderlagen;
knielange Röcke in Kombination mit New-Balance-Turnschuhen (eine Marke, die im
Vorn
eine Zeitlang alle trugen und die auch auf den Fotografien im Heft ständig auftauchten); aufgetrennte Nähte unten an den Beinen
der Jeans, die ihren Trägerinnen – vor allem wenn es geregnet hatte und der Saum nass wurde – etwas Verwegenes gaben. Und
ein paar Jahre später dann die tiefsitzenden Jeans, die in Verbindung mit kurzgeschnittenen T-Shirts oder Blusen den berühmten
Streifen Haut am Bauch offenlegten, der seitdem nicht mehr verschwunden ist. Vielleicht hatte diese leichte Reizbarkeit Tobias’
einfach nur damit zu tun, dass seine ersten Freundinnen alle älter gewesen waren als er und die Mädchen für ihn nun, je jünger
sie wurden, desto ähnlicher aussahen. Er konnte es nicht genau sagen. Jedenfalls fielen sie ihm ständig auf, wenn er durch
die Innenstadt ging oder in der U-Bahn saß. Es gab Tage, an denen er sich in unzählige Gesichter verliebte. Manchmal wäre
er gerne mit einer kleinen Zählmaschine in der Hand durch die Straßen gelaufen, wie sie von Stewardessen benutzt werden, die |94| vor dem Start noch einmal durch das Flugzeug gehen, um die genaue Anzahl der Passagiere zu ermitteln: jedes Gesicht ein Knopfdruck.
Manchmal verstieg sich Tobias jetzt auch zu der Idee, einmal ein Mädchen zu treffen, das nichts als reiner Typ war, dessen
Art, sich zu kleiden und zu bewegen, sich von allem Persönlichen gelöst hatte. Er wusste natürlich, dass er einem Phantom
aufsaß, dass das Typische nur aus der Distanz sichtbar war und sich sofort auflösen würde, wenn er das Mädchen mitsamt seiner
Geschichte, seiner Biografie besser kennenlernte. Dennoch hatte der Gedanke beim Anblick all der zum Verwechseln ähnlichen
Erscheinungen in der Innenstadt mit ihren straff zurückgebundenen Pferdeschwänzen, den taillierten Jacken und hohen Stiefeln
etwas Reizvolles. Tobias malte sich das auf dem Weg in die
Vorn
- Redaktion, die lange Sendlinger Straße hinunter, oft aus, wenn er die Mädchen hinter den Schaufenstern des Kookaï- oder Body-Shop-Ladens
sah: Er fragte sich, ob es möglich wäre,
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