Vorn
anschließen würden, hätte man ihnen am liebsten zurufen wollen, sie sollten doch erst einmal ein Theoretikum einschieben
und dann weiterschauen.
Sarah stammte aus München, und als Tobias sie fragte, auf welchem Gymnasium sie gewesen sei, stellte sich heraus, dass sie
eineinhalb Jahre zuvor auf der Schule neben seiner Abitur gemacht hatte. Das Theodor-Fontane- und das Helmholtz-Gymnasium
lagen im Süden Münchens auf demselben Grundstück neben einer großen Sportanlage, und während das »Fontane« ein neusprachliches
Gymnasium mit hohem Mädchenanteil war, gingen auf das naturwissenschaftliche »Helmholtz« fast nur Jungen. In Tobias’ Kollegstufe
damals waren von knapp hundert Schülern zehn oder zwölf Mädchen gewesen. Zu seiner Zeit hatten sich die beiden Direktorate
alle Mühe gegeben, den Kontakt zwischen den |129| Schülern zu unterbinden; die Pausenhöfe waren getrennt, die Pausen selbst zu verschiedenen Tageszeiten gewesen. In den acht
Jahren, die zwischen Tobias’ und Sarahs Abitur lagen, hatte sich das, wie sie erzählte, vollständig geändert. Jetzt gab es
offenbar gemeinsame Pausen, sogar gemeinsamen Unterricht; sie habe, sagte Sarah, einen Deutsch-Leistungskurs besucht, der
sich zum Teil aus Helmholtz-, zum Teil aus Fontane-Leuten zusammensetzte. Tobias stellte sich einen Moment lang vor, wie anders
seine Schulzeit womöglich verlaufen wäre, wenn sich diese Annäherung schon ein Jahrzehnt früher ergeben hätte. Seine Jahre
am Helmholtz-Gymnasium waren, was den Zusammenhalt unter den Schülern betraf, eher trostlos verlaufen. Da so gut wie keine
Mädchen auf diese Schule gingen (und die Wenigen, die es gab, trugen fast alle eine Brille), wurde in den Klassen und später
in den Kollegstufen-Kursen nichts in größeren Gruppen unternommen. Der Deutsch-Leistungskurs etwa, den er am Helmholtz-Gymnasium
besucht hatte, bestand aus einem halben Dutzend zerstrittener Jungs, die ständig Konkurrenzkämpfe austrugen und sich im Umfang
ihrer Referate zu überbieten suchte, und einem schweigsamen, leicht übergewichtigen Mädchen namens Britta, das meistens fehlte,
weil es seine Pferde auf dem Land versorgen musste. Mit Ausnahme seines ältesten Freundes gab es in der Schule niemanden,
mit dem Tobias außerhalb des Unterrichts Zeit verbracht hätte. Sarah dagegen erzählte ihm nun von den ganzen Pärchen in ihrer
Stufe und den gemeinsamen Urlaubsreisen in den Sommerferien; gleich nach dem Abitur seien sie sogar zu zwölft in ein Haus
auf Korsika gefahren, und auch wenn es dort zu verhängnisvollen |130| Liebesdramen gekommen sei, hätten sich die meisten Freundschaften bis heute erhalten. Tobias konnte nur entgegnen, dass so
etwas mit den Aktenkofferträgern und kommenden Filialleitern in seiner Kollegstufe nicht denkbar gewesen wäre. Und er erzählte
Sarah, die sich das alles sehr belustigt und mit gespieltem Mitleid anhörte, die trostlose Geschichte seiner Abiturverleihung,
die in nichts anderem als einer kurzen, offiziellen Übergabe der Zeugnisse durch den Direktor bestand. Abiturrede, Abiturstreich,
Abiturfeier, das alles habe es mangels Engagement der Schüler nicht gegeben, und eine Stunde nach Beginn der Veranstaltung
in der gemeinsamen Turnhalle von Helmholtz- und Theodor-Fontane-Gymnasium sei er schon mit seinen Eltern und seiner Schwester
in einem mexikanischen Restaurant gesessen.
Vielleicht lag es an diesen Berührungspunkten in ihrer Vergangenheit, dass Tobias von Tag zu Tag begeisterter von Sarah war.
Erst jetzt fiel ihm auch auf, wie gut sie wirklich aussah: der Liv-Tyler-artige Mund, die strahlenden Augen; besonders mochte
Tobias auch ihre immer ein wenig raue Stimme. Im Büro unterhielten sie sich nun häufiger miteinander. Ihre Schreibtische lagen
ja nur ein paar Meter voneinander entfernt im hinteren Teil des Zimmers, und immer wieder rollte einer von ihnen auf dem Bürostuhl
in die Richtung des anderen, damit sie leiser reden konnten und Dennis und Anne nicht störten. Bei diesen Gesprächen bemerkte
Tobias auch zum ersten Mal Sarahs Parfüm, das, wie er später von ihr erfuhr, eigentlich ein Herrenduft war, von Joop. (Noch
lange Zeit danach traf es ihn wie |131| ein Schlag, wenn er irgendwo diesen herben Duft wahrnahm, und dass es Männer waren, die ihn benutzten, ein Taxifahrer oder
der Sitznachbar in der Straßenbahn, machte diese Wiederbegegnung umso irritierender.) Einen Freund namens Christian gab es
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