Vorn
Befremden über die Platzverteilung am Tisch verflog an diesem Abend bald, weil sich die Geburtstagsgesellschaft ohnehin
nach einiger Zeit verkleinerte und er gegenüber von Sarah zu sitzen kam. Die Schumann’s-Kellner brachten eine Runde Pils nach
der anderen, und alle stießen auf Philipp Nicolai an, der im Journalistenbetrieb eine so ungewöhnliche Erscheinung war. Die
aufgedrehte, immer ein wenig nervöse Atmosphäre im hinteren Teil der Bar schien an ihm völlig abzuprallen. Wenn die anderen
ganze Stunden lang über ihr letztes Interview mit einem Hollywood-Star referierten oder mit einer häufig wiederkehrenden Redewendung
in die Runde riefen, sie hätten diesen Regisseur oder jene Band doch erst »erfunden« durch ihre Artikel, saß Philipp meistens
nur schweigend daneben, mit einem in sich gekehrten Lächeln. Es gab niemanden unter den Redakteuren, von dem eine ähnliche
Gelassenheit |137| ausgegangen wäre – vielleicht auch, weil sich niemand anderer einer so umfassenden Wertschätzung der eigenen Arbeit sicher
sein konnte. Bei der Tageszeitung war er nicht fest angestellt, schickte die Artikel meistens von seinem Haus im Isartal in
die Redaktion, wo er mit seiner Frau und den beiden Kindern wohnte, und dass er sehr ungewöhnliche Arbeitszeiten haben musste,
bemerkten die
Vorn
- Redakteure immer dann, wenn sie am Mittwochmorgen seine Kolumne im Faxgerät fanden, versendet um 2.37 Uhr oder 3.12 Uhr. Philipp
Nicolai war jemand, dessen Position in einer Gesprächsrunde man selbst gerne eingenommen hätte; Tobias dachte das häufig,
wenn sie in
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- Konferenzen über ein Thema oder einen Artikel stritten und er wieder einen Satz zu viel gesagt hatte, eine Nuance zu laut
geworden war. Er ärgerte sich dann immer, dass er es nicht geschafft hatte, souverän zu bleiben und die »Nicolai-Position«
zu bewahren, wie er es manchmal für sich nannte. Bei Philipp war es auch so, dass seine Person und der Tonfall seiner Texte
vollkommen übereinstimmten. Er sah genauso aus, wie man ihn sich als Leser immer vorgestellt hatte – so wie Tobias überhaupt
bemerkte, dass es unter den Journalisten in seinem Bekanntenkreis zwei Grundtypen gab: diejenigen, die in eine Rolle schlüpften
beim Schreiben, die eine Haltung beschworen, die ihnen im Leben selbst abging – eine bestimmte Lakonie, eine cowboyhafte Verwegenheit
–, und diejenigen, bei denen es eine große Deckungsgleichheit gab zwischen Schreibstil und eigenem Auftreten. Philipp, unrasiert
wie fast immer, saß zufrieden auf einer Eckbank in dieser Nacht, und als die Schumann’s-Kellner vorne schon die Stühle auf
die Tische |138| stellten, wurde ihm vom Besitzer der Bar noch ein »Nicolai-Kaffee« gebracht.
In den Tagen darauf sprachen Tobias und Sarah kaum miteinander. An fast jedem Abend traf sich die Fußballmannschaft zum Training,
weil ein Spiel gegen das Freizeitteam von Ralf, dem
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- Grafiker, anstand, das mit ein paar sehr guten Spielern besetzt war. Tobias fiel nur auf, dass Sarah in dieser Woche viel
zu tun hatte; wenn er gegen sechs das Büro verließ, saß sie immer noch an ihrem Schreibtisch und schien an einem größeren
Artikel zu arbeiten. Er registrierte auch erleichtert, dass es zwischen Sarah und Dennis nach dem Abend im Schumann’s zu keiner
größeren Vertrautheit gekommen war; sie gingen immer noch auf dieselbe leicht flirtige, aber unverbindliche Weise miteinander
um. Tobias dagegen wusste von Tag zu Tag genauer, dass Sarah für ihn keine bloße Schwärmerei war wie frühere
Vorn
- Praktikantinnen; er bemerkte das schon daran, dass er sich nicht ohne weiteres traute, sich mit ihr zum Essen zu verabreden.
Einmal, als die Sehnsucht nach ihr besonders groß war, holte er spätabends in seiner Wohnung das Münchner Telefonbuch aus
einem Schrank, um ihren Namen darin zu suchen. Sarah hatte einen der geläufigsten Nachnamen, sie hieß Schröder, und aufgeregt
ging Tobias die vielen Spalten mit den gleichlautenden Einträgen durch. Zuerst suchte er die Telefonnummer ihrer WG im Westend;
er fand sie schnell, denn es gab nur wenige Sarah Schröders in München, und der Anschluss war wirklich auch unter ihrem Namen
eingetragen. Danach blätterte er weiter und wollte auch die Nummer ihres Elternhauses finden. Tobias wusste zwar |139| nicht die genaue Adresse, aber sie hatte einmal erwähnt, dass es eine Straße am Waldfriedhof war, in einer Gegend mit Einfamilienhäusern,
in der
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