Vorn
Spiele, die er mit Emily angeschaut hatte, an die ganzen Isarpartys. Manchmal hielt er kurz inne, wie um den Moment
herbeizusehnen, in dem sich alles als Alptraum erweisen würde. »Tobi, glaub mir, es hatte nichts mit dir zu tun, wirklich«,
sagte Emily. Doch er lachte nur verächtlich: »Nichts mit mir zu tun? Natürlich hat das was mit mir zu tun. Du hast unsere
Beziehung kaputtgemacht!« Und er rannte aus der Küche heraus und verließ die Wohnung.
Auf dem Weg nach Hause, die lange, menschenleere Kapuzinerstraße entlang, am Schlachthof und der Großmarkthalle vorbei, stellte
er sich immer wieder dieselben Fragen: Warum war ihm in dieser langen Zeit nichts aufgefallen; warum hatte er keinen Verdacht
geschöpft? Welche Selbsttäuschung, sich für ein glückliches Paar zu halten und dann vier Monate lang nichts zu merken! Wie
viele Telefonate musste es abends zwischen ihnen gegeben haben, bei denen Emily genau wusste, dass sie gleich noch zu Lars
gehen oder in ihrer Wohnung auf ihn warten würde? Natürlich, er war in den Monaten zuvor mit den Gedanken meistens beim
Vorn
- Magazin gewesen. Aber das hatte doch nichts mit der tiefen Vertrautheit zwischen ihnen zu tun. Tobias sperrte sich gegen jede
Überlegung, was dieser Betrug |121| für die Zukunft mit Emily bedeuten könnte; er hatte Angst, darüber nachzudenken. Sein ganzer Hass richtete sich dagegen auf
Lars. Als er auf den alten Südbahnhof zuging, die Straße, in der das Substanz lag, überkamen ihn Mordphantasien; er malte
sich immer wieder aus, wie er am nächsten Abend dort auftauchen und ihm vor den Augen aller anderen mit einer Bierflasche
den Schädel zertrümmern würde. Warum überhaupt Lars, der bei Undone immer den Clown gab? Wenn Emily sich doch wenigstens einen
wirklich eindrucksvollen Typen genommen hätte! Aber Lars, dieser Eierkopf mit Brille und Stirnglatze, der seit Jahren damit
kokettierte, dass er nie eine Freundin finden würde, der auf Undone-Konzerten gerne zwischen den Liedern ans Mikrofon vorging
und das Publikum fragte, ob jemand einen Job für ihn wisse, er sei gerade arbeitslos. In der Band hatte er immer die Rolle
des Freaks, der zwar seit der Schulzeit eng mit den anderen befreundet war, den man aber nicht ganz für voll nahm, dessen
Erfolglosigkeit bei Frauen und grundsätzliche Desorientierung im Leben – abgebrochenes Gymnasium, gescheiterte Anläufe in
mehreren Berufen – im Tourbus ein endloses Reservoir für Witze und hämische Kommentare abgab.
Wenn Tobias später an die Monate nach Emilys Geständnis zurückzudenken versuchte, war seine Erinnerung so gut wie ausgelöscht.
Im Jahr darauf waren sie wieder zusammen, so vertraut wie immer (mit dem Unterschied, dass sich ihr gemeinsamer Freundeskreis
aufgelöst hatte). Für die Zeit dazwischen jedoch, den Herbst und den Winter, waren ihm nichts als einzelne |122| Bilder im Gedächtnis geblieben, ohne inneren Zusammenhang. Er wusste nur noch, dass er weiterhin ganz in der Arbeit im
Vorn
- Magazin aufging. Seine Faszination für das Heft, für die Welt des Journalismus hatte nicht nachgelassen, und auch wenn er
sich in den Tagen danach gegen die Vorstellung sträubte, wie es mit Emily und ihm nun weitergehen würde – was er damals sofort
spürte, war die Gewissheit, den Kontakt mit dem ganzen Undone-Umfeld abbrechen zu wollen, sich endgültig auf seine neuen Bekanntenkreise
über das Magazin zu beschränken. Als er dann auch noch erfuhr, dass alle Bandmitglieder außer Marius schon lange in Lars’
Affäre eingeweiht waren, nahm er sich diesen Schritt sogar regelrecht vor: Von nun an würde er das Substanz kein einziges
Mal mehr betreten und jedes Konzert meiden, auf dem er die Undone-Leute vermutete. Tobias war sich sicher, dass ihm dieser
Entschluss nicht einmal besonders schwerfallen würde. Das
Vorn
- Magazin schien ihm ohnehin die weitaus inspirierendere Umgebung für ihn zu sein. Und hatte er auf dem letzten Konzert von
Undone, bei einem Festival kurz nach seinem Geburtstag, nicht sogar schon das Gefühl gehabt, die Songs inzwischen zu oft gehört
zu haben? Dass er jeden Ton, jeden unerwarteten Übergang in den Liedern auswendig kannte, erschien ihm nicht mehr wie früher
als schönes Geheimwissen, sondern erzeugte beinahe Überdruss in ihm. Robert und Dennis, denen er gleich am nächsten Tag von
Emilys Betrug erzählt hatte, bestärkten ihn in dieser Entscheidung. Sie verstanden es auch nicht, warum
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