Vorn
tatsächlich; gegen Ende des Arbeitstages rief Sarah ihn häufig an. Sie hatte ihn offenbar während des Journalistikstudiums
kennengelernt, bei ihrem Auslandssemester in London, von dem sie gerade zurückgekehrt war. Sarah redete aber auf so unbeteiligte,
fast gleichgültige Art von ihm, dass Tobias den Eindruck bekam, sie seien gar kein richtiges Paar mehr.
Die »Details«-Rubrik war Sarahs Lieblingsseite im
Vorn
, wie sie Tobias in den ersten Tagen erzählte. Sie hatte auch sofort eine Idee und wollte, nachdem sie den Artikel in Dennis’
Rubrik beendet hatte, etwas über das Thema »Zufall« schreiben. Sarah sagte, sie interessiere sich vor allem auch für die falschen,
vorgetäuschten Zufälle, die man inszeniere, wenn man verliebt sei und auf unbemerkte Weise in die Nähe des anderen kommen
wolle: »Weißt du, Tobias, ich denke da an Situationen wie eine Urlaubsreise in einer größeren Gruppe, wenn sich die Leute
auf die verschiedenen Autos verteilen, und man es irgendwie schaffen muss, in denselben Wagen zu kommen. Es muss wie Zufall
aussehen, klar«, sagte sie, »doch man kann natürlich darauf einwirken; man braucht einfach nur gezielt an der Seite des anderen
bleiben.« Für Tobias gab es dank diesem Artikel jetzt die Möglichkeit, mehrmals am Tag länger mit Sarah zu reden. Gemeinsam
an einem Text zu arbeiten, das war im Redaktionsalltag die Lizenz, dem anderen |132| auf ganz beiläufige und unaufdringliche Weise nahe zu sein. Er nutzte auch seine Position als Redakteur aus und fragte Sarah
manchmal, ob sie inzwischen weitergekommen sei: »Ich habe den Text schon für die 46 vorgesehen«, sagte er mit vorgetäuschter
Strenge, »es wird langsam Zeit.« Sarah rollte mit ihrem Drehstuhl dann wieder Richtung Tobias’ Schreibtisch, und wenn etwa
Robert Veith am Spaßzimmer vorbeikam, sah er die beiden wie schon einige Male zuvor gemeinsam vor dem Bildschirm sitzen, grinste
in ihre Richtung und sagte »Verstehe!« oder, wie es seine manchmal etwas dreiste Art war: »Oha, Tobias, hast du nicht eine
Freundin?«
Tobias war wirklich angetan von Sarah, und er hatte sogar angefangen, ihr nach der Mittagspause, wenn er sich unten am Kiosk
noch eine Flasche Volvic kaufte, etwas mitzubringen, meistens ein Hanuta, das seit kurzem nur noch im Zweierpack erhältlich
war. Er legte ihr dann immer eines davon auf den Schreibtisch; es war fast schon ein kleines Ritual zwischen ihnen. Einmal
lud Tobias Sarah auch zu einem Cappuccino in die Segafredo-Bar ein, um weiter über den »Zufälle«- Text zu reden, und er musste
sich dabei zuhören, wie er vor ihr das ganze »Espressi«- und »Mach ma Dodici«-Programm herunterspulte. Sarah war amüsiert
und meinte, sie müsse jetzt sicher jedes Mal, wenn sie irgendwo einen Espresso bestelle, an dieses Gespräch denken; er dagegen
kam sich so schäbig vor wie noch nie. Bei all diesen Gemeinsamkeiten mit Sarah hatte Tobias aber weiterhin den Eindruck, dass
sie an Dennis mindestens genauso interessiert war wie an ihm; die beiden waren sogar schon zweimal gemeinsam Mittagessen gewesen, |133| und er versorgte sie regelmäßig mit Themen und Rechercheaufträgen. Dass sich eine ernsthafte Konkurrenz zwischen Tobias und
Dennis anzubahnen schien, war auch daran zu erkennen, dass sie über Sarah niemals miteinander redeten. Bislang waren die spielerischen
Flirts mit Praktikantinnen immer ein beliebtes Gesprächsthema gewesen, wenn sie abends noch essen gingen oder eine Partie
TippKick spielten. Seit dem Telefonat in Tobias’ Hotel, an Sarahs erstem Arbeitstag, war von ihr aber nicht mehr in diesem
plauderhaften Ton die Rede gewesen, und die Zurückhaltung zwischen ihnen war das sicherste Zeichen für Tobias, dass es diesmal
anders war, weniger harmlos.
Sarah war etwa vierzehn Tage beim
Vorn
, als Philipp Nicolai im Schumann’s seinen 35. Geburtstag feierte. Am frühen Abend hatte sich die gesamte Redaktion noch bei
der Eröffnung einer Fotoausstellung getroffen, und als Dennis und Tobias ins nahegelegene Schumann’s aufbrachen, fragten sie
Sarah, ob sie mitgehen wolle. Sie reagierte zuerst zögerlich. »Ich kenne doch da keinen – meint ihr wirklich?«, fragte sie,
ließ sich dann aber doch überzeugen. Sie unterschrieb sogar auf der Geburtstagskarte, die Dennis, Tobias und Johannes ihrem
Geschenk, einem neuen Tischtennis-Schläger für die regelmäßigen Turniere in Philipps Garten, beigelegt hatten. Als die drei
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