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Vorn

Titel: Vorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bernard
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die Wohnung betreten hatten. In der ersten und
     zweiten Nacht bei ihm war es selbstverständlich, dass sie sich nach dem Hereinkommen noch mit ihren Schuhen an den Füßen aufs
     Bett warfen (nur die Mäntel hatten sie an den Garderobenhaken im Flur gehängt); das Ausziehen ihrer Stiefel, seiner Turnschuhe
     durfte keinen Moment der |160| Unterbrechung bedeuten. Vielleicht war das genau das Kennzeichen des ganz frischen Zusammenseins: dass nichts eine Stockung
     duldete, so als wäre jede kurze Pause zu riskant, als würden sie fürchten, der andere könnte in letzter Sekunde noch zur Besinnung
     kommen. Alle Handgriffe mussten
eine
fließende Bewegung ergeben: das Aufschließen der Wohnungstür, das Ausziehen der Mäntel, die Küsse im Flur, der Weg ins Schlafzimmer,
     der eher ein gegenseitiges Sich-Schieben war. Im Bett dann versuchten beide ihre Schuhe so beiläufig und unbemerkt wie möglich
     abzustreifen, während sie sich küssten, was bei Sarahs Stiefeln nicht unkompliziert war. Der Satz »Wart mal, ich muss meine
     Schuhe ausziehen« hätte zu dieser Zeit noch nicht ausgesprochen werden können. In der dritten oder vierten Nacht dann war
     das Überschreiten dieser Anfangsphase genau daran zu erkennen, dass der Satz jetzt möglich war. Sie versuchten es auf ironische,
     spielerische Weise: »Das ist aber nicht so superbequem mit den Stiefeln, oder?«, sagte Tobias leise und zog ihr die Schuhe
     dann selbst aus. Ihr Verliebtsein war noch genauso euphorisch wie ganz am Anfang, aber es gab jetzt schon ein dünnes Fundament,
     das einen solchen Kommentar erlaubte. Und dann war es fast ein bisschen traurig, wie schnell die zweite Phase in jene dritte
     überging, in der sie beim Hereinkommen in seine Wohnung oder ihre WG sofort die Schuhe auszogen und nebeneinander im Flur
     abstellten, als wären sie schon ein routiniertes Paar. Ungefähr zu dieser Zeit empfing ihn Sarah auch nicht mehr an der Wohnungstür
     im zweiten Stock, wenn er bei ihr zu Hause das Treppenhaus heraufkam, sondern ließ die Tür offen und wartete in der Küche
     auf ihn.
     
    |161| Sarahs Praktikum dauerte bis Weihnachten; sie hatte aber bereits mit Thomas vereinbart, Mitte Januar noch einmal zurückzukommen
     und für zwei Wochen einen kurzfristig abgesprungenen Praktikanten zu vertreten. In der Redaktion machten Tobias und Sarah
     nun kein Geheimnis mehr aus ihrem Zusammensein. Abends gingen sie auch häufig mit anderen
Vorn -
Leuten aus, und Tobias wurde von Dennis und Anne immer wieder zugeflüstert, was für ein schönes Paar sie doch seien. In diese
     Zeit fiel die endgültige Trennung von Emily. Tobias hatte sie ein paar Wochen lang vertröstet, am Telefon immer wieder gesagt,
     dass er nicht genau wisse, was mit ihm los sei, er brauche einfach Zeit. Emily ahnte natürlich, dass er jetzt ständig mit
     Sarah zusammen war, auch die Nächte mit ihr verbrachte. Tobias’ Gefühl für sie war vollkommen verschwunden. Manchmal versuchte
     er sich fast mit Gewalt daran zu erinnern, was ihn sieben Jahre lang so angezogen hatte. Aber er musste sich eingestehen,
     dass ihm Emily nicht mehr richtig gefiel, seitdem es Sarah gab. Einmal trafen sie sich nachmittags in einem Waldgasthof im
     Isartal, in dem sie oft miteinander gewesen waren, und dort sprach Emily die Trennung zum ersten Mal aus. Sie beschimpfte
     ihn dafür, dass er sie nicht nur wegen einer anderen verlassen habe, sondern nun nicht einmal den Mut aufbringe, das auch
     selbst zu sagen. Zwei Wochen später, es war Mitte Dezember, rief ihn Emily in der Redaktion an und sagte ihm mit kurzen, seltsam
     mechanischen Sätzen, dass sie abends gegen acht kommen und ihre Sachen holen würde: »Ich habe ja noch einen Schlüssel, es
     ist mir egal, ob du da bist.« Als sie die Wohnung betrat – sie hatte geklingelt, aber dann sofort aufgesperrt – und, ohne
     ihn |162| anzusehen, nach hinten ins Schlafzimmer ging, fiel Tobias erst auf, wie viel von seiner Einrichtung mit Emily zu tun hatte.
     Sie schmiss seine T-Shirts und die Unterwäsche aus der alten weißen Truhe, die sie ihm kurz nach ihrem Zusammenkommen geschenkt
     hatte (er konnte sich im ersten Moment gar nicht mehr daran erinnern); dasselbe tat sie mit dem kleinen, von ihr selbst gebauten
     Holzregal im Badezimmer, in dem Tobias seine Handtücher aufbewahrte. Danach ging sie durch die Räume der Wohnung und warf
     alles in die Truhe, was ihr gehörte, Kerzenständer, Wolldecken, ein paar Bücher, Schminkzeug, Zahnbürste,

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