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Vorn

Titel: Vorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bernard
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Tobias hörte deutlich, wie Sarah ein paar
     Meter weiter hinten etwas erzählte. Er liebte diese Stimme, die immer an der Grenze zur Heiserkeit war, in Gesellschaft manchmal
     auch ein bisschen laut. Als sie Wochen später, an einem langen Sonntagnachmittag im Bett, einmal »Wahrheit oder Pflicht« spielten
     und Tobias irgendwann »Wahrheit« wählte, fragte ihn Sarah, was er an ihr nicht so mochte. Er legte seinen Arm um sie, sagte
     flüsternd, immer wieder unterbrochen von Küssen, dass es da nichts gebe. Aber Sarah ließ nicht locker, meinte lachend: »Komm,
     da wird dir doch was einfallen«, und als er dann sagte, dass er vielleicht ihre Stimme hin und wieder zu laut finde, wenn
     sie in größerer Runde etwas erzähle, war sie wirklich gekränkt, und er brauchte lange, um sie davon zu überzeugen, wie toll
     er ihre Stimme in Wahrheit fand.
     
    Später tauchte noch Robert im Schumann’s auf, der auch auf dem Radiohead-Konzert gewesen war. Als er Tobias mit Sarah in der
     Ecke stehen sah, kam er auf ihn zu und erzählte ihm, dass er sich vor dem Auftritt länger mit Emily unterhalten hatte. Tobias
     ärgerte sich über Roberts mangelndes Feingefühl, aber im nächsten Moment war es ihm fast gleichgültig. Sarah und er verließen
     das Schumann’s kurze Zeit später. Als sie vor dem Lokal in ein Taxi stiegen, sagte Tobias seine Adresse; ohne dass sie darüber
     geredet hätten, war klar, dass sie beide zu ihm fahren würden. In dieser Nacht schliefen sie zum ersten Mal miteinander, und
     als es Sarah am frühen Morgen kalt wurde, holte Tobias ihr |158| ein altes T-Shirt mit dem
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Schriftzug aus der Kommode, das die Fußballmannschaft manchmal als Trikot benutzte. Am späten Vormittag gingen sie in ein
     Café frühstücken, ins Camus in der Nähe ihrer Gymnasien, das sie beide noch aus Schulzeiten kannten.
     
    Tobias und Sarah verbrachten zweieinhalb Monate miteinander. Wenn er später an diese Wochen zurückdachte, kamen ihm als erstes
     Bild immer die Adventssamstage vor Augen, ihre stundenlangen Spaziergänge durch die weihnachtlich dekorierte Innenstadt. Sie
     liefen Hand in Hand die Sendlinger Straße entlang, und wenn sie an dem großen Kookaï-Laden in der Nähe der
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Redaktion vorbeikamen, empfand Tobias eine tiefe Zufriedenheit. Mit Emily war er sich vor diesen Schaufenstern immer der Unstimmigkeit
     bewusst gewesen, dass seine eigene Freundin nichts mit all den Mädchen, die hinter den Scheiben die Röcke und Blusen an den
     Kleiderständern begutachteten, zu tun hatte. Jetzt war er, wie er fand, mit der schönsten von allen zusammen. Und es hatte
     sogar etwas Reizvolles für ihn, dass Sarah in ihren hohen Stiefeln, dem knielangen Rock und dem Pferdeschwanz vielen anderen
     Mädchen in der Innenstadt ähnlich sah. Wenn sie sich am Marienplatz trafen, der Kälte wegen oft im Eingangsbereich des Kaufhofs,
     verwechselte Tobias sie von Zeit zu Zeit, während er auf sie wartete. Doch die Enttäuschung, dass das Mädchen, das er im Gedränge
     der Fußgängerzone im ersten Moment für Sarah gehalten hatte, erneut jemand anderes war, wurde überlagert von einem merkwürdigen
     Glücksgefühl.
     
    |159| Mit Sarah war es zum ersten Mal auch so, dass ein Mädchen für Tobias als Vorstellung begehrenswert blieb, obwohl er mit ihr
     zusammen war. Bei allen seinen früheren Freundinnen war der Moment, in dem sie ein Paar wurden – oder sogar schon der Zustand
     des Verliebtseins – gleichbedeutend damit gewesen, dass sie als Sexphantasie verschwanden. Es kam ihm immer so vor, als würde
     seine Zuneigung das Mädchen veredeln, mit einer Schutzschicht versehen, und jenen Rest an Fremdheit oder Rohheit tilgen, der
     für diese Vorstellungen notwendig war. Körperliche Anziehung ging dann auch nur noch von unmittelbaren Berührungen oder Küssen
     aus, nicht mehr davon, dass Tobias an das Mädchen dachte. Bei Sarah war das vollkommen anders. Er spürte eine tiefe Verbundenheit
     zu ihr, vielleicht eine tiefere als jemals in seinem Leben, doch dieses Gefühl nahm ihrem Bild nicht den Reiz. Ständig hatte
     er ihren Körper vor Augen, stellte sich ihre Brüste vor, ihre Unterwäsche. Und Tobias fand auch nicht mehr wie früher, dass
     er das Mädchen entwürdigte, wenn er es zum Bild machte.
     
    Sie verbrachten jetzt mehrere Nächte in der Woche miteinander, und ihre zunehmende Vertrautheit ließ sich an einem kleinen
     Zeichen ablesen: an der Art, wie die beiden ihre Schuhe auszogen, nachdem sie

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