Vorn
mitnahm
als in die Küche. (In den Wochen bis zu ihrer endgültigen Trennung führte Tobias noch viele lange Telefonate mit Emily, immer
am selben Ort, das Kabel von Tag zu Tag verdrehter.) An diesem Abend sagte er ihr, dass er nicht zu dem Radiohead-Konzert
mitkommen würde. Er erzählte ihr von der Party im Schumann’s; dass er diese Verabschiedung ganz vergessen hatte. Doch Emily
glaubte ihm natürlich nicht, wurde wütend und wiederholte ständig denselben Satz. »Da ist doch sicher auch deine Praktikantin«,
sagte sie immer wieder. Das war ihre Bezeichnung für Sarah gegenüber Tobias, »deine Praktikantin«. Ihren Namen sprach sie
kein einziges Mal aus.
Emily hatte den Telefonhörer aufgeknallt, und Tobias wurde langsam bewusst, vielleicht zum ersten Mal, dass sein Leben nicht
mehr so weiterlaufen würde wie bisher. Er konnte sich zwar immer noch nicht vorstellen, dass die Beziehung zu Emily, die fast
sein ganzes Erwachsenenalter eingenommen hatte, jemals zu Ende |155| gehen würde. Doch diese Gewissheit war in dem Moment nur Theorie, abstrakte Überlegung. Alles, was ihn wirklich interessierte,
war Sarah. Er empfand beinahe eine körperliche Notwendigkeit, ihr nahe zu sein. Tobias hatte noch nie ein Mädchen kennengelernt,
mit dem Küssen so viel Spaß machte. Keiner von ihnen war zu stürmisch oder zu zurückhaltend. Es stellte sich bei einer neuen
Begegnung ja ohnehin jedes Mal die Frage, wie das Küssen sein würde. Und nur selten stimmte der Grad an Intensität bei beiden
wirklich überein. Tobias hatte Mädchen gekannt, die so zaghaft und defensiv küssten, dass es ihm irgendwann fast so vorkam,
als würde er im Mund der anderen herumstochern. Dann gab es auch Mädchen, deren offensive Leidenschaft wie ausgedacht wirkte,
so als müssten sie einen Wettbewerb gewinnen. Mit Sarah dagegen war es von Anfang an genau richtig.
An diesem Freitagabend gingen Tobias und Sarah zuerst in eines der weitläufigen Touristenlokale in der Fußgängerzone essen:
ein Ort, der in seiner Herausgelöstheit aus ihrem gewöhnlichen Umkreis ihre Zusammengehörigkeit noch verstärkte. Gegen halb
elf kamen sie ins Schumann’s. Fast die ganze Redaktion drängte sich um die Eckbank des kleinen Tisches in der Nische. Zwischen
den Gläsern lagen etliche Gauloise-Schachteln und die rosafarbenen Feuerzeuge mit dem
Vorn -
Schriftzug. Alle waren in ausgelassener Stimmung, tranken Whisky Sour, der hier besser als irgendwo sonst schmeckte, weil
er mit frisch ausgepresstem Saft gemacht wurde, und es war erstaunlich, wie selbstverständlich es plötzlich schien für Tobias
und Sarah, |156| sich in dieser Umgebung als Paar erkennen zu geben. Sie standen nebeneinander, küssten sich manchmal, und keiner der anderen
nahm besondere Notiz davon, so als hätten sie es ohnehin gewusst. Nur Dennis blinzelte Tobias für einen Moment lächelnd zu,
nickte anerkennend, und wie so oft war es nicht klar, wie er diese Entdeckung tatsächlich aufnahm, ob er jemals ernsthaftes
Interesse an Sarah gehabt hatte oder ob er das Flirten mit ihr eher als sportlichen Wettkampf betrachtet hatte, dessen Verlust
er jetzt mit Respektbezeugungen an den Gewinner einräumte. Tobias fühlte sich wohl mit Sarah, und er spürte an diesem Abend
zum ersten Mal, was er in den Wochen darauf häufig fast mit Erleichterung feststellte: dass er jetzt mit einem Mädchen zusammen
war, für das er sich in größeren Runden nicht verantwortlich fühlen musste. Das war immer schon eines der Probleme mit Emily
gewesen, dass er auf Partys oder im Nachtleben das Gefühl hatte, sie nicht allein lassen zu dürfen, weil sie von sich aus
nicht auf andere Leute zugegangen wäre. Es war ihm dann an solchen Abenden fast zum Reflex geworden, in Unterhaltungen von
Zeit zu Zeit nach ihr Ausschau zu halten, um sich davon zu vergewissern, dass auch sie sich gut amüsierte. Emilys Scheu ging
so weit, dass sie sich im Supermarkt weigerte, einen Verkäufer zu fragen, wo ein bestimmtes Produkt stehe. Sie beharrte immer
darauf, selbst zu suchen, und für Tobias war das so unverständlich, dass sie sich beim Einkaufen manchmal stritten. Jetzt,
an diesem Abend im Schumann’s, wusste er schon im ersten Moment, dass es diese Schwierigkeiten mit Sarah nicht geben würde.
Denn sie hatte keinerlei Mühe, jemanden kennenzulernen, war auch hier schon |157| ins Gespräch mit einer Gruppe von Gästen gekommen, die an der Zwischenwand standen.
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