Vorn
Tamponschachtel
und zuletzt ihre Strickjacke, die an der Garderobenstange im Schlafzimmer hing. Tobias’ Blick fiel in diesem Moment auf sein
dunkelgrünes Gap-Sweatshirt neben der Jacke, das Emily morgens immer benutzt hatte, wenn sie bei ihm gewesen war; die Ärmel
waren noch aufgekrempelt. Emilys Bewegungen wirkten wie auf Autopilot gestellt, als hätte sie sich beim Reinkommen vorgenommen,
erst beim Verlassen der Wohnung wieder Luft zu holen. Als sie fertig war und seinen Schlüssel vom Ring gezogen hatte, fragte
sie Tobias mit tonloser Stimme, ob er ihr kurz helfen könne, die Truhe und das Regal hinunterzutragen, ihr Auto stehe in der
Einfahrt. Im Treppenhaus kam es dann zu einer bitteren, fast komödiantischen Szene: Ein Nachbar auf dem Stockwerk verließ
gerade seine Wohnung und dachte, die beiden würden umziehen. »Ach, nehmen Sie sich jetzt doch was Größeres zusammen?«, fragte
er freundlich. Emily und Tobias, zum letzten Mal als Paar angesprochen, sagten nur »Nein, nein«, so beiläufig, wie es ihnen
möglich war, und schleppten die Sachen nach unten.
|163| Emily hatte also tatsächlich einen Schlussstrich gezogen, und diese Gewissheit ging an Tobias nicht spurlos vorüber. Er empfand
keine richtige Trauer, doch manchmal glaubte er jetzt zu bemerken, dass seine Leidenschaft für Sarah etwas in ihm überlagerte:
wie ein örtlich betäubter Patient, der die Wunde zwar nicht spüren kann, sie aber dennoch registriert, an einem ungewohnten
Körpergefühl, einer im Zaum gehaltenen Spannung. Tobias’ Gefühl des Verliebtseins überstrahlte aber weiterhin alles, und es
beglückte ihn jedes Mal, wenn er sah, dass es Sarah genauso ging. Am Nikolausabend – ein paar Tage bevor Emily ihre Sachen
holte – hatte er etwa einen großen Plastikstiefel mit Geschenken vor seiner Wohnungstür gefunden. Sarah musste irgendwann
am Nachmittag in das Haus gekommen sein (sie hatte noch keinen Schlüssel) und ihm den Stiefel vor die Tür gestellt haben.
Zwischen den Nüssen, Orangen und Schokoladenfiguren fand Tobias auch zwei von ihr selbst aufgenommene Kassetten, Drum & Bass-
und House-Sachen, unter anderem die erste CD von Dimitri From Paris, »Sacrebleu«. Tobias mochte diese Platte besonders, vor
allem den Song »Une very stylish Fille«, und wenn er Sehnsucht nach Sarah hatte, spulte er die Kassette immer bis zu dieser
Stelle vor. Eine weibliche Stimme fragt in dem Stück mehrmals »How do I look«, eine männliche antwortet »Very good, I must
say I’m amazed«, und wenn er das Lied hörte, glaubte Tobias, die Dialoge würden sich auf Sarah beziehen, sie selbst sei das
»very stylish girl«, das in dem Stück besungen wird.
|164| Tobias wollte sich bei Sarah möglichst schnell mit einer eigenen Mixkassette bedanken. Er zögerte aber, weil er ein paar Tage
vor der Nacht im Atomic Café noch ein Tape für Emily begonnen hatte. Fast die Hälfte der ersten Seite war bereits bespielt,
mit den besten Stücken der CDs, die Tobias in den vergangenen Monaten gekauft oder von Plattenfirmen geschickt bekommen hatte.
Die Kassette, mit der angebrochenen Songliste auf der Hülle, lag anfangs unberührt auf dem Verstärker seiner Anlage; er verstaute
sie dann aber in einem Regal, nachdem Sarah zum ersten Mal bei ihm gewesen war. Eines Abends beschloss Tobias, mit einer Ungerührtheit,
die ihn selbst verblüffte, das bereits angefangene Tape einfach für Sarah zu verwenden. Natürlich musste sich nun die Grundkomposition
des Ganzen ändern, denn während er für Emily alle drei, vier Monate eine neue Kassette zusammengestellt hatte, war es nun
notwendig, Sarah erst einmal einen grundsätzlichen Einblick in seine Musik zu geben. Also überspielte Tobias die drei zuletzt
aufgenommenen Lieder, um nicht zu viel Aktuelles am Anfang des Tapes zu haben, nahm ein paar seiner ewigen Favoriten auf (Rites
of Spring, Moving Targets, Hüsker Dü, Fugazi) und stellte dann eine Mischung aus älteren Stücken zusammen – »Tin Cans & Twine«
von Tortoise, »Cut your Hair« von Pavement, »Savory« von Jawbox, »Nothing like you« von The Notwist, die er Emily schon vor
Jahren aufgenommen hatte – und neuen Sachen, The Sea and Cake, DJ Shadow, Kruder & Dorfmeister oder den fünften Song der »OK
Computer«-Platte von Radiohead. (Vor allem dieses Lied, dessen Titel sich Tobias nie merken konnte, wurde für ihn zum Soundtrack
der Wochen mit |165| Sarah. Noch lange danach
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