Vorn
zusammenkamen. Emily
hatte immer die Schichtpläne für das Betreuerteam angefertigt, schrieb auch regelmäßig Einträge in das große Notizbuch im
Büro, und Tobias dachte daran, wie sehr ihm die Regelmäßigkeit dieser Schrift von Anfang an imponiert hatte. Emilys Handschrift
war reif, von immergleicher Gestalt, und unter den zwei Dutzend Schriften im Schichtbuch des Teams war sie auf den ersten
Blick zu identifizieren. Er hatte später auch den Eindruck, dass Emilys ganze Persönlichkeit in dieser Schrift enthalten war.
Bei Sarah dagegen |168| war kein eigener Stil zu erkennen. Ihre Mädchenschrift verkörperte noch nichts, blieb erlernter Standard, ohne Verbindung
zur Urheberin. Sein Freund Stefan kam ihm in den Sinn, der Sarahs junges Gesicht einmal mit einer Formulierung, die Tobias
verächtlich vorkam, als »teigig« bezeichnet hatte. Doch er musste sich eingestehen, dass dieses Wort auf ihre Handschrift
zutraf. Die Buchstaben waren noch wie von einer Schicht aus Babyspeck umgeben.
Sarah war seine erste jüngere Freundin, und die sieben Jahre zwischen ihnen bedeuteten auch, dass die beiden nicht, wie es
etwa mit Emily immer selbstverständlich gewesen war, über die gleichen Erinnerungen an Namen oder Ereignisse von früher verfügten.
Anfangs hatte Tobias es gerade anziehend und sogar befreiend gefunden, dass er nun eine Freundin hatte, deren Lebensgeschichte
nicht parallel zu seiner verlaufen war, die den ganzen Bestand von Figuren aus seiner Kindheit, Fernsehhelden oder Popstars,
nicht kannte. Aber jetzt empfand er es als Mangel, dass er so viele Dinge, die für sein Leben mit sieben, neun oder dreizehn
bedeutsam gewesen waren, nicht mit Sarah teilen konnte. Beim Fernsehen auf der Wohnzimmercouch ihrer WG stießen sie in einer
Nacht auf eine Dokumentation über die Neue Deutsche Welle; Markus wurde gerade interviewt und redete über seinen Hit »Ich
will Spaß«. Tobias nahm Sarah in den Arm und sagte: »Hey, schau mal, Markus, war das vielleicht ein bescheuertes Lied!« Doch
sie sagte nur gereizt: »Ich kenne das gar nicht. ›Neue Deutsche Welle‹– den Begriff habe ich zwar schon mal gelesen, aber
ich kann überhaupt nichts |169| damit verbinden. Ich bin ja auch erst fünf oder sechs gewesen damals.« Immer wieder kam es jetzt zu kleinen Unstimmigkeiten,
und Tobias bemerkte sofort, dass solche Auseinandersetzungen mit Sarah ganz anders abliefen, als er es aus den letzten Jahren
gewohnt war. Zwischen Emily und ihm hatten sich kleine Krisen immer sehr schnell auflösen lassen; einer machte dann während
eines lauten Wortwechsels plötzlich eine Pause, sah den anderen ironisch an, und dann fingen beide zu lachen an. Mit Sarah
ging das nicht: Wenn sie sich stritten, gab es noch keine erprobte Methode der Besänftigung; ohne dass Tobias genau wusste,
warum, schaukelten sich die Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen immer weiter hoch und endeten in einer dauerhaften Verstimmung.
Tobias fiel bei einer dieser kurzen Streitereien wieder ein, was Sarah schon am zweiten Abend, bei ihrem langen Gespräch im
Rustico, erwähnt hatte. Sie hatte ihm damals mit der Hand über die Haare gestrichen und gesagt: »Übrigens, es kann sein, dass
ich manchmal so komische fünf Minuten habe. Bitte denk dir dann nichts und warte einfach ab, bis es vorbei ist, ja?« Damals
war dieses Geständnis für ihn ohne Bedeutung gewesen; im Taumel seiner Verliebtheit hatte er die angekündigte Launenhaftigkeit
Sarahs sogar eher anziehend gefunden. Doch jetzt geschah es tatsächlich oft, dass ihre Stimmung ohne jede Ankündigung kippte.
Das war vor allem am Telefon ein Problem, wenn ein falsches Wort dazu führte, dass Sarah immer einsilbiger wurde und über
einen langen Zeitraum hinweg gar nichts mehr sagte. Mit Emily, daran dachte er jetzt oft, waren gerade |170| die langen Telefonate immer ein besonderes Zeichen ihrer Zusammengehörigkeit gewesen. Sogar in der Zeit der Trennung konnte
es geschehen, dass sie nach einer halben Stunde voller Vorwürfe und Rechtfertigungsversuche plötzlich, durch einen kleinen,
versöhnlichen Einschub – »Sag mal, geht’s deinem Vater eigentlich wieder besser?« – noch zehn Minuten lang ganz ruhig miteinander
telefonierten. Ihre Vertrautheit hatte über die Jahre hinweg etwas Felsenfestes angenommen; zwischen Sarah und ihm nun reichte
ein einziger unbedachter Kommentar, eine missverstandene Wendung, und ihre gemeinsame Basis
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