Vorn
musste er nur die ersten Töne des Gitarrenmotivs am Anfang hören, und er fühlte sich mit einem Schlag
zurückversetzt in diese Zeit, erinnerte sich an Sarahs Gesicht, sah sich in seiner spärlich eingerichteten Wohnung sitzen,
die ein wenig vernachlässigt wirkte seit Emilys letztem Besuch. Sein Erinnerungsvermögen war genau auf diesen Akkord gestimmt,
auf den Fünfvierteltakt des Gitarren-Pickings, der sich dann auf verschlungene Weise mit dem Viervierteltakt der anderen Instrumente
verbindet.)
Als er Sarah die Kassette ein paar Tage später schenkte, überkam ihn für einen kurzen Moment ein schlechtes Gewissen. Er spürte
zum ersten Mal wirklich so etwas wie Schmerz über die Trennung von Emily, bemerkte mit leichtem Erschrecken, wie er die über
die Jahre eingespielten Liebesrituale plötzlich mit Sarah wiederholte. Und es gab in den Tagen darauf eine Reihe von anderen
Situationen, in denen ihm das plötzlich auffiel. Als er einmal mit ihr die Rolltreppe in der U-Bahn-Station hinunterfuhr,
stellte er sich automatisch eine Stufe unter sie, um sie zu küssen, so wie er es immer mit Emily getan hatte, die wesentlich
kleiner war als er. Mit Sarah wäre dies aber gar nicht nötig gewesen, denn sie war fast genauso groß wie Tobias selbst. Kurze
Zeit später ergriff er beim Spazierengehen Sarahs Hand und berührte ganz unwillkürlich den Nagel ihres kleinen Fingers. Emily
hatte die Angewohnheit, diesen Nagel ein wenig länger wachsen zu lassen als die anderen, und es war eine der vertrautesten
Gesten zwischen ihnen gewesen, dass er beim Hand-in-Hand-Gehen immer wieder über die Spitze des Nagels fuhr, wie um sich davon
zu |166| vergewissern, dass alles beim Alten war. Es durchfuhr Tobias, als er die Bewegung nun an dem anderen Körper wiederholte, als
er bemerken musste, dass sie ins Leere zielte und es diese Stelle bei Sarah nicht gab. Er empfand diesen Moment wie einen
doppelten Betrug: einerseits an Emily, die er, wie ihm jetzt schien, mit der Geste vielleicht auf noch schmählichere Weise
hinterging als durch die Trennung selbst, andererseits an Sarah, die ihm für einen Augenblick vorkam, als wäre sie nichts
als ein neues Bild in einem bekannten Rahmen.
Es war in den Tagen vor Weihnachten, als Tobias immer häufiger ins Zweifeln kam. Einmal in dieser Zeit beschlossen Sarah und
er beim Verlassen der
Vorn -
Redaktion, noch ins Kino zu gehen. Sie wollten sich im City in der Sonnenstraße eine Komödie mit Cameron Diaz ansehen, und
als sie an der Kasse standen und die Karten kauften, hatten sie eine Meinungsverschiedenheit darüber, welche Plätze sie nehmen
sollten. Tobias saß gerne in einer der vorderen Reihen, in der dritten oder vierten. Emily hatte diese Gewohnheit immer geteilt;
sie waren beide der Meinung gewesen, dass man hinten zu weit entfernt vom Geschehen war. Außerdem redeten die Leute im Publikum
dort ständig, kommentierten die Szenen; es kam Tobias so vor, als seien die Zuschauer im Kino desto unkonzentrierter, je weiter
hinten sie saßen. Auf die Frage der Frau an der Kasse, welche Kartenkategorie sie haben wollten, antwortete Tobias instinktiv
»Reihe eins bis fünf«, doch als er sich zu Sarah wendete, sah er ihren missbilligenden Gesichtsausdruck: »Nee, lass uns lieber
was weiter hinten nehmen«, sagte sie, »was willst du denn so weit |167| vorn? Das Kino ist doch nicht mal voll.« Tobias gab nach, sie setzten sich in eine der hintersten Reihen, doch diese Kleinigkeit
ließ ihn auf einmal alles in Frage stellen. Er achtete kaum auf den Film, begann darüber nachzudenken, ob sein Verhalten in
den vergangenen zwei Monaten nicht doch Irrsinn gewesen war. Gab er nicht eine jahrelange glückliche Liebesbeziehung auf für
nichts als ein schönes Gesicht, eine vollendete Repräsentantin seines Mädchentyps?
In den Tagen darauf wurde Tobias diese Ahnung nicht mehr los, und er begann fast Indizien dafür zu sammeln, warum es mit Sarah
vielleicht doch nicht gehen konnte. Als er zu Hause die Dimitri-From-Paris-Kassette aus der Hülle nahm, fiel sein Blick auf
Sarahs Handschrift. Es war eine große, rundliche Schreibschrift, die ihm auf einmal ziemlich unausgeprägt und klobig vorkam.
Die Buchstaben änderten auch von Wort zu Wort ihren Neigungswinkel und den Abstand zueinander. Unwillkürlich kam ihm Emilys
Handschrift ins Gedächtnis, die ihm damals im Flüchtlingsheim schon aufgefallen war, bevor sie überhaupt
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