Vorn
Harras und den ganzen Weg weiter zum Messegelände, wo Sarah wohnte. Als sie an der großen Kreuzung bei der
U-Bahn-Station schließlich auseinander gingen, rief sie ihm ihre Telefonnummer zu, jene, die er ein paar Tage zuvor im Telefonbuch
nachgeschlagen hatte, er wusste noch die Anfangsziffern. Im Gehen trug er die Nummer in sein Adressbuch ein, mit einem kaum
funktionierenden Stift, und es war nicht zu sagen, ob die verwackelte, abwechselnd zu blasse und zu kräftige Schrift eher
mit diesen äußeren Unzulänglichkeiten zusammenhing oder mit seiner eigenen Aufregung. In den Wochen darauf erinnerten ihn
die schiefen, ein wenig |152| zu großen Ziffern jedenfalls immer an die Umstände des Eintragens. Er kannte die Nummer längst auswendig, aber die ungelenke,
ins Dunkle hinein geschriebene Zahlenfolge trug über den bedeutungslos gewordenen Informationsgehalt hinaus etwas Beständigeres,
nur für ihn Lesbares in sich: das Andenken an diesen zweiten Abend mit ihr, die Hoffnung im Augenblick des Schreibens, dass
es mit ihnen gutgehen würde.
Sarahs Erscheinung entsprach dem Mädchentyp, der Tobias in den letzten Jahren so angezogen hatte, vollkommen. Ihm gefiel die
Silhouette ihres Körpers, ihre betont aufrechte Haltung, die dafür sorgte, dass Sarah im Gehen ein bisschen stolz, fast majestätisch
aussah. Er liebte auch jedes ihrer Kleidungsstücke: die leicht taillierte Lederjacke, den weißen Mantel mit den großen Knöpfen,
die enge dunkelblaue Jeans, die Herrenanzugs-Hose mit Nadelstreifen, ihre V-Ausschnitt-Pullis und Strickjacken (alle eng geschnitten
und so kurz, dass immer ein schmaler Streifen Haut frei blieb zwischen Oberteil und Hose), die schwarzen Lederstiefel. Sarahs
Garderobe war nicht besonders umfangreich. Sie wusch deshalb ständig, und jedes Mal, wenn Tobias in den Wochen darauf bei
ihr war, stand mitten in ihrem WG-Zimmer der Wäscheständer, so dicht behangen, dass der Platz nicht ausreichte und Sarah an
den Rändern immer noch ein paar Kleiderbügel anbrachte, auf denen die frisch gewaschenen Oberteile hingen.
Im
Vorn
- Magazin ließen sich Sarah und Tobias noch nichts anmerken. Mittags trafen sie sich nur selten zu |153| zweit, in einem Bistro, in das niemand aus der Redaktion gegangen wäre. Wenn Sarah an der Universität war, wo sie trotz ihres
Praktikums ein oder zwei Seminare besuchte, holte sie Tobias vor dem Institutsgebäude in der Schellingstraße ab, und dann
saßen sie eine halbe Stunde in einem der Cafés im Universitäts-Viertel, bevor sie gemeinsam die Ludwigsstraße Richtung Innenstadt
zurückliefen. Tobias wusste, dass es nicht lange so weitergehen konnte, dass eine Entscheidung bevorstand. In den Jahren mit
Emily hatte es zwei oder drei Mal ein anderes Mädchen gegeben, für eine Nacht oder höchstens ein paar Tage, aber immer war
es damals schnell zu dem Augenblick gekommen, in dem Tobias durch einen bestimmten Satz Emilys oder eine vertraute Geste blitzartig
klar wurde, zu wem er gehörte. Das Verliebtsein in das andere Mädchen war dann buchstäblich mit einem Schlag verschwunden.
Seine Nähe zu Sarah aber, das ahnte er, würde sich nicht mehr durch einen solchen Moment auflösen. Und Tobias ließ die Dinge
mit einer eigentümlichen Passivität einfach weiterlaufen.
Zwei Wochen nach der Nacht im Atomic Café, an einem Freitag, feierte die Praktikantin, die mit Sarah angefangen hatte und
nur einen Monat beim
Vorn
geblieben war, ihren Abschied im Schumann’s. Es war die erste offizielle Redaktionsveranstaltung, seitdem sich Tobias und
Sarah nähergekommen waren, und er wusste genau, dass sie bei diesem Treffen nichts mehr verbergen würden. An dem Abend gab
auch Radiohead ein Konzert in München. Emily hatte Tobias schon Wochen zuvor von diesem Auftritt erzählt; die »OK Computer«-CD |154| war im Sommer erschienen, und Emily hörte seitdem kaum etwas anderes als diese Platte. Sie hatten damals auch ausgemacht,
gemeinsam dorthin zu gehen, Emily wollte Karten besorgen. Als sie am Abend vor dem Konzert miteinander telefonierten, kam
plötzlich alles Aufgeschobene zwischen ihnen zur Sprache. Tobias saß in seiner Küche; das Telefon stand auf dem pastellfarbenen
Fünfziger-Jahre-Buffet neben dem Esstisch. Er besaß noch kein Mobilgerät zu Hause, und das Kabel des Telefons hatte sich im
Lauf der Zeit derart verwickelt, dass die Leitung sofort unterbrochen wurde, wenn man das Telefon in einen anderen Raum
Weitere Kostenlose Bücher