Vorn
schien komplett einzubrechen.
Sie schwiegen dann lange am Telefon (nur die rhythmischen Störgeräusche in Tobias’ wackliger Leitung waren zu hören), und
es bedurfte einer großen Anstrengung, damit sie sich vor dem Auflegen wieder versöhnten.
Er hatte sich kurzfristig entschlossen, in den Tagen um Silvester nach New York zu fliegen, alleine, um an jenem Ort Zeit
zu verbringen, an dem Emily und er so oft gewesen waren. Er wollte sich den Erinnerungen an ihre Reisen dorthin aussetzen,
nahm sich auch vor, ihre gemeinsamen Freunde zu treffen, um nach dem Zurückkommen eine Entscheidung für sich zu fällen. Beim
Abflug weinte er minutenlang in Gedanken an Emily, den Kopf in ein Kissen am Fenster gestützt, damit es die Sitznachbarn nicht
mitbekamen. In New York aber hatte er dann ständig Sehnsucht nach Sarah, wenn er an seinen Lieblingsplätzen vorbeikam. Er
wollte ihr alles zeigen: das berühmte 2nd-Avenue-Deli im East Village; das alte Café in der Greenwich Avenue, |171| das einzige weit und breit, in dem man stundenlang sitzen konnte, ohne ständig etwas bestellen zu müssen; den Bryant Park
mit den unzähligen grünen Gartenstühlen; die stille, schattige Upper East Side, die nach dem Menschengewimmel auf der Fifth
Avenue immer so beruhigend auf ihn wirkte. In dem Barnes-and Noble-Buchladen am Union Square entdeckte Tobias am ersten Tag
eine große Biografie über Kiss, die vor seiner Punk-Zeit viele Jahre lang die wichtigste Band für ihn gewesen waren. Er kehrte
dann jeden Nachmittag dorthin zurück, um oben im Café des Ladens in dem Buch zu lesen, und die stundenlange Beschäftigung
mit den vertrauten Songtiteln und Plattencovern verstärkte seltsamerweise auch das Zusammengehörigkeitsgefühl mit Sarah, so
als würde ihre Verbindung eine genauso tiefe Schicht seines Lebens berühren wie die Liebe zu Kiss. Am Silvestermorgen rief
er von seinem Hotel aus Emily an, abends dann Sarah, ein paar Minuten vor sechs New Yorker Zeit. Sie machte ein Fest in ihrer
WG, und er wollte sie möglichst kurz vor Mitternacht erreichen. Zwei Tage später flog Tobias zurück. Im Gepäck hatte er für
beide ein Geschenk, jeweils ein Kleidungsstück von Banana Republic: für Emily einen schwarzen Wollpullover mit V-Ausschnitt,
den er sich auch selbst gekauft hatte, für Sarah ein elegantes Top. Er hatte die Kleidungsstücke an den entgegengesetzten
Enden seiner Reisetasche verstaut, wie um dadurch seine Konfusion in Schach zu halten.
Jedes Mal, wenn Tobias allein in New York gewesen war in den Jahren davor, hatte ihn Emily mit ihrem Auto vom Flughafen abgeholt.
Den Tag seiner Ankunft verbrachten |172| sie dann immer auf dieselbe Weise: Sie machten einen langen Spaziergang auf dem Land und gingen in ein bayerisches Gasthaus
essen (die weite Landschaft, der im Ofen geschmorte Braten zwei erholsame Maßnahmen gegen das horizontlose Manhattan und die
schnellen Grillgerichte in den Coffee Shops). An diesem Vormittag wartete Sarah in der Flughafenhalle auf ihn. Sie saß ein
paar Meter abseits des Gates, wie Tobias enttäuscht feststellte, als er mit seiner Tasche durch die gläserne Schiebetür kam;
sie stand nicht wie die anderen Leute erwartungsfroh davor. Spätestens an der Art ihrer Begrüßung erkannte er dann, dass sich
Sarahs Freude über das Wiedersehen in Grenzen hielt. Tobias’ Idee, mit der S-Bahn gleich irgendwo aufs Land zu fahren, fand
sie merkwürdig; sie sagte, sie sei müde, außerdem müsse er ja erst die Tasche in einem Schließfach unterbringen. Am Hauptbahnhof
stiegen sie doch noch in eine S-Bahn Richtung Starnberg um, gingen eine Zeitlang im Mühltal spazieren, doch mit Sarah konnte
Tobias das alte Ankommensritual nicht einfach weiterführen. Sie fuhren schnell wieder in die Stadt zurück.
Die alte Vertrautheit stellte sich nach seiner New-York-Reise nicht mehr ein. Am Abend seiner Rückkehr wollte Sarah alleine
sein; früh am nächsten Morgen rief sie ihn jedoch aufgewühlt an, sagte ihm, sie habe die schrecklichste Nacht ihres Lebens
gehabt und werde jetzt sofort zu ihm kommen. Sie verbrachten dann den ganzen restlichen Tag bei ihm im Bett. Ein paar Tage
später – es war ein Sonntag – verabredeten sie sich zu einem Ausflug und gingen abends ins Kino, in »Titanic«, der gerade
angelaufen war. Nach dem Film, schon |173| weit nach Mitternacht, saßen sie im Café Ivan, einem in die Jahre gekommenen Achtziger-Jahre-Bistro in der
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