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Vorn

Titel: Vorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bernard
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Innenstadt, in
     dem man mangels Alternativen nach dem Kino meistens landete. Tobias war während des Films wieder in Zweifel über ihre Zukunft
     geraten, und an einem der niedrigen Bistrotische im ersten Stock begann er Sarah davon zu erzählen: dass er nicht genau wisse,
     ob es wirklich funktionieren würde mit ihnen. Sie hörte sich die ersten Sätze an, dann stand sie auf, sagte nur »Das ganze
     Hin und Her ist mir jetzt endgültig zu viel« und lief die Treppe hinunter. Tobias legte schnell ein paar Münzen auf den Tisch
     (»Wie im Film«, dachte er noch) und rannte ihr nach, durch die Passage hinaus auf die Straße. Er sah Sarahs weißen Mantel
     vor sich, die aufrechte Gestalt, wie sie die menschenleere Sonnenstraße Richtung Stachus ging, dann in einem U-Bahn-Zugang
     verschwand. Tobias blieb stehen. Ein paar Meter neben ihm stand eine Telefonzelle, und auf einmal überkam ihn das große Bedürfnis,
     Emily anzurufen. Als sie sich meldete, sagte er sofort, ohne jede Begrüßung: »Du, ich hab mich gerade von Sarah getrennt.«
     Doch mitten in seine Worte hinein hörte er die Türklingel in Emilys Wohnung. Es war fast ein Uhr früh, und auf seine Frage,
     wer das denn um diese Zeit noch sein könne, sagte Emily teilnahmslos: »Das ist wahrscheinlich Lars.« Tobias legte den Hörer
     auf; er wusste nicht mehr, was er denken sollte, und nahm sich ein Taxi nach Hause. In der schlaflosen Nacht dann spürte er
     mit brennender Klarheit, von Stunde zu Stunde deutlicher, dass er mit Sarah zusammen sein wollte. Alle seine Zweifel waren
     plötzlich verschwunden. Am nächsten Tag versuchte er sie von der Redaktion aus zu |174| erreichen, rief alle zehn Minuten in ihrer WG an, doch keiner hob ab. Nach der Arbeit wartete er auf sie vor dem Haus im Westend.
     Irgendwann kam sie ihm auf der langen Ganghoferstraße von der U-Bahn-Station aus entgegen, machte ein irritiertes Gesicht,
     als sie ihn erkannte. Er überredete sie, mit ihm in ein Café um die Ecke zu gehen, und dort erzählte er ihr von seiner Erkenntnis
     in der zurückliegenden Nacht. Er wollte ihre Hand nehmen, doch er merkte sofort, dass seine Worte überflüssig waren, dass
     sie ihrerseits schon abgeschlossen hatte. Sarah hörte sich seine Beteuerungen an und sagte von Zeit zu Zeit ganz ruhig: »Tobias,
     nein, glaub mir, es ist vorbei! Ich bin, ehrlich gesagt, auch einfach nicht mehr verliebt in dich.«

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    Er litt auch deshalb so unter der Trennung von Sarah, weil er auf den Straßen ständig eines ihrer Kleidungsstücke sah, die
     Lederjacke von H&M oder den weißen Mantel von Kookaï. Die Innenstadt kam ihm wie ein Kriegsschauplatz vor, gepflastert mit
     Minen, in die seine Erinnerung trat. Überall wimmelte es von Gesichtern, in denen er Sarah zu erkennen glaubte: Sie schaute
     von den Werbeplakaten der LBS-Sparkasse herunter, die in fast jedem U-Bahnhof hinter den Gleisen hingen; sie stand in den
     kleinen Modeboutiquen in der Sendlinger Straße; und wenn Tobias sich aus Langeweile eine der Vorabend-Soaps im Fernsehen ansah,
     dauerte es nicht lange, bis ein Mädchen ins Bild kam, das ihn an Sarah denken ließ. Er nahm sich Urlaub beim
Vorn
, weil er die Vorstellung nicht aushalten konnte, noch einmal zwei Wochen lang im selben Büro wie sie zu sitzen. Doch auch
     in seiner Wohnung stieß er immer wieder auf Spuren von ihr. In einer Nacht, in der sie bei ihm geschlafen hatte, war ein Weinglas
     auf dem Nachttisch umgefallen, und die blassroten Flecken an der Wand machten ihn für einen Augenblick fassungslos. Beim Staubsaugen
     fand Tobias eine Haarnadel von ihr unter dem Bett, und er fragte sich einen Moment lang, ob es möglich wäre, sich mit dieser
     Nadel zu erstechen.
     
    |176| Ein paar Tage nach ihrer Trennung schrieb er einen flehenden Brief, in dem er Sarah davon überzeugen wollte, zu ihm zurückzukehren.
     Kurz nach dem Einwerfen fiel ihm auf, dass er die mit etlichen Korrekturen übersäte Rohfassung des Briefes aus Versehen mit
     in den Umschlag gesteckt hatte, und er raste auf dem Fahrrad zurück zum Briefkasten, um die nächste Leerung abzuwarten und
     den Zettel aus dem Kuvert zu nehmen. Die Tage darauf tat Tobias dann nichts anderes, als auf eine Reaktion von Sarah zu warten.
     Anstatt zu duschen, badete er nur noch, um das Klingeln des Telefons jederzeit hören zu können. Wenn er von einem Spaziergang
     oder vom Einkaufen nach Hause kam, schloss er jedes Mal wieder den Briefkasten auf, auch wenn er wusste,

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