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Vorn

Titel: Vorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bernard
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dass der Postbote
     längst dagewesen war. Er hoffte darauf, dass Sarah in der Zwischenzeit vielleicht einen Brief bei ihm vorbeigebracht hatte,
     so unbemerkt wie damals den Nikolausstiefel vor seiner Wohnungstür. Doch er bekam keine Antwort. Oft musste Tobias an die
     großen Worte denken, die Sarah benutzt hatte in den Wochen ihres Zusammenseins. »So was hab ich echt noch nie erlebt«, hatte
     sie gesagt, als sie in einem Café gesessen waren; einmal auch: »Ich kann mich nicht erinnern, schon mal so verliebt gewesen
     zu sein.« Jetzt bereute es Tobias, dass er in seiner Anoraktasche nicht ständig ein kleines Aufnahmegerät mit sich geführt
     hatte, das er am Anfang eines solchen Bekenntnisses unbemerkt hätte einschalten können, um einen Beweis in Händen zu halten.
     
    Eines Nachmittags, als Tobias es nicht mehr aushielt, fuhr er zu ihr an die Universität; es lief ja noch dasselbe |177| Semester wie vor den Weihnachtsferien, und Tobias hatte die Zeiten ihrer Seminare im Gedächtnis behalten. Doch innerhalb von
     Wochen war aus dem Abholen ein Abpassen geworden. Er stand wie früher vor dem Institutsgebäude, als Sarah mit einer anderen
     Studentin zur Tür herauskam. Schon von weitem hatte er ihre Stimme erkannt, die so überschwänglich wie immer klang, doch als
     sie ihn sah, verstummte sie abrupt, entschuldigte sich bei ihrer Begleiterin und gab Tobias mit wenigen Worten zu verstehen,
     dass er so etwas lassen solle.
     
    Es dauerte vier oder fünf Wochen, bis Tobias sich einigermaßen beruhigt hatte. Er wusste, dass es unmöglich war, Sarah umzustimmen;
     Dennis und Anne hatten ihm auch erzählt, dass sie in der Redaktion kein einziges Mal nach ihm gefragt hatte. Er gab seine
     Hoffnungen endgültig an jenem Nachmittag auf, als er Sarah noch einmal für ein paar Stunden sah. Er schrieb an einer Titelgeschichte
     für die Rubrik »
Vorn
zur Wahl«, die in den Monaten vor der Bundestagswahl immer wieder im Heft auftauchte; es war eine Anekdotensammlung über Helmut
     Kohl, und bei den Vorbereitungen stellte sich heraus, dass die Nachbarin von Sarahs Eltern früher einmal als Sekretärin für
     ihn gearbeitet hatte. Tobias überwand sich, Sarah anzurufen, sie zu fragen, ob sie die Frau zusammen treffen wollten, und
     gemeinsam fuhren sie in jene kleine Straße am Waldfriedhof, die er an dem Abend kurz vor ihrem Zusammenkommen im Telefonbuch
     nachgeschlagen hatte. Nach dem Gespräch nahmen sie einen Bus zurück Richtung Innenstadt, und als Tobias an einer Haltestelle
     in der Nähe |178| seiner Wohnung ausstieg, wollte er sie zum Abschied küssen. Das Befremden, mit dem sie reagierte – sie wies ihn nicht einmal
     besonders schroff ab, sondern war nur überrumpelt, wie jemand, der mit nichts in der Art gerechnet hätte –, war eine letzte
     Bestätigung für ihn, dass es vorbei war.
     
    Tobias begann wieder im
Vorn
zu arbeiten, nachdem die Vertretungszeit Sarahs geendet hatte. Der Redaktionsalltag tat ihm gut – die Konferenzen, das Telefonieren,
     das TippKick-Spielen, das In-der-Teeküche-Stehen –, und Tobias hatte mit Thomas sogar vereinbart, vorübergehend eine volle
     Stelle anzunehmen, an allen fünf Tagen der Woche zu arbeiten und nicht nur an dreien wie bislang. Manchmal telefonierte er
     nun auch wieder mit Emily. Sie war anscheinend schon ein wenig über das Ende ihrer Beziehung hinweggekommen und freute sich
     darüber, wieder mit Tobias zu reden. Er fing in diesen Gesprächen sogar an, Emily von Sarah zu erzählen, was sie aber immer
     mit der halb spöttisch, halb bitter klingenden Bemerkung abwehrte, dass sie so weit nun auch wieder nicht sei. Tobias kam
     immer besser zurecht, und er begann der Aussicht auf das Alleinsein nach so langer Zeit fast etwas Gutes, Spannendes abzugewinnen.
     Doch als er eines Abends, etwas mehr als einen Monat nach der Trennung von Sarah, ein Telefonat mit Emily beendete, geschah
     etwas Unerwartetes mit ihm, ohne jede Vorankündigung. Nicht dass ihm irgendeine bestimmte Bemerkung Emilys besonders nahegegangen
     wäre, nein, es war ein unaufgeregtes, fast plauderhaftes Gespräch gewesen – aber auf einmal, im Moment des Auflegens, fühlte
     er, wie ein Riss mitten |179| durch ihn hindurchging, wie er sich, auch körperlich ganz deutlich zu spüren, spaltete. Mit aller Kraft nahm die Erkenntnis
     in ihm überhand, die letzten Jahre im Widerspruch gelebt zu haben, in zwei unvereinbaren Sphären. Tobias wusste sofort, dass
     etwas Schwerwiegendes mit ihm

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