Vorn
passiert war, ungefähr so wie ein Fußballspieler, der sich bei einer Aktion das Knie verdreht
und noch im Hinfallen ein Zeichen Richtung Trainerbank gibt, dass er ausgewechselt werden muss. Sein ganzes Leben brach in
diesem Moment auseinander: in die
Vorn
- Welt einerseits und die Emily-Welt andererseits. Er konnte sich nicht mehr zusammenfügen, war sich sicher, den Gegensatz der
Welten, in denen er gelebt hatte, übermäßig ausgereizt zu haben. Tobias ging ins Badezimmer und sah in den Spiegel. Er glaubte,
in seinem Gesicht die Spaltung zu erkennen, als würde ein Riss mitten durch die Stirn gehen.
Die erste Nacht verbrachte er noch in seiner eigenen Wohnung, doch im Dunkeln wurde seine Verstörung immer größer. Gegen halb
vier konnte er nicht mehr, stand aus dem Bett auf und lief in Jogginghose und Anorak stundenlang durch die Straßen seines
Viertels. Am Morgen rief er Stefan an, erzählte ihm mit wenigen Sätzen, was geschehen war, und fragte ihn, ob er eine Zeitlang
bei ihm und seiner Freundin wohnen könne. Noch am selben Abend zog er mit einer Reisetasche in ein schmales Reihenhaus an
einer Ausfallstraße im Münchner Osten, in dem Stefan und Regina mit einer dritten Mitbewohnerin lebten. In den ersten Nächten,
oben in dem kleinen Gästezimmer, war das Gefühl der Spaltung so übermächtig, dass er nachts oft wie mit Blitzen in seinem |180| Kopf aufwachte. Wenn sie abends im Wohnzimmer zusammen einen Film im Fernsehen ansahen, hätte er danach nichts über den Gang
der Handlung sagen können, so sehr hatte er mit der Anstrengung zu kämpfen, die widerstreitenden Eindrücke in ihm zu bändigen.
Nicht einmal Fußball, der verlässlichste Orientierungspunkt in seinem Leben, konnte ihn in dieser Zeit beruhigen: Einmal wurde
in den Abendnachrichten die Schimpfrede Giovanni Trappatonis über die Spieler vom FC Bayern gezeigt, doch er nahm die Bilder
nur wie hinter einem dichten Schleier wahr, verstand nicht einmal genau, worum es ging.
Tobias überwand sich aber dennoch, weiterhin Tag für Tag in die Redaktion zu gehen; jeden Morgen fuhr er mit dem Bus zur nahegelegenen
S-Bahn-Station und von dort aus zum Marienplatz. Der feste Rahmen der Tage half ihm auch jetzt, obwohl das Heft selbst im
Zentrum seiner Verzweiflung stand. Tobias war überzeugt davon, dass die Euphorie, mit der er sich damals in die
Vorn
- Welt begeben hatte, mit einer Übertretung verbunden war. Er konnte die vergangenen zweieinhalb Jahre nicht als Entwicklung
in seinem Leben denken, sondern empfand sie als unzulässigen Sprung. Auch wenn er immer noch genau wusste, dass er nicht mehr
mit Emily zusammen sein wollte: Es kam ihm vor, als hätte er nicht nur seine Freundin verleumdet, sondern auch seine innersten
Überzeugungen. Tobias versuchte sich nun immer wieder die ersten Begegnungen mit den
Vorn -
Redakteuren in Erinnerung zu rufen. Er begann seinen eigenen Instinkten zu misstrauen: Hatte er sich mit den falschen Leuten
angefreundet? Zeit seines Lebens |181| war es ihm in einer neuen Umgebung leichtgefallen, mit anderen in Kontakt zu kommen; Emily hatte ihm sogar manchmal gesagt,
wie sehr sie ihn um diese Fähigkeit beneide. Jetzt aber war es gerade das allzu reibungslose Aufgehen in der
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Welt, das Tobias komplett verunsicherte. Das Magazin war in seiner Anfangszeit eine Autorität für ihn gewesen; jemanden wie
Robert Veith hatte er als Instanz empfunden, deren Geschmacksurteile ihm fast – er musste sich das eingestehen – wie Gesetze
erschienen waren. Und diese Erkenntnis machte ihm nun alle Unbefangenheit im
Vorn -
Umfeld unmöglich. Tobias wurde im Redaktionsalltag von einer Art Überprüfungszwang ergriffen. Jeden einzelnen Satz, der im
Gespräch mit Robert, Dennis, Anne oder auch mit Johannes Veith und Philipp Nicolai fiel, musste er im Moment des Aussprechens
daraufhin untersuchen, ob er seinen eigenen Standpunkten entsprach. Die ganze Ordnung seiner Überzeugungen und Abneigungen
war eingestürzt, nicht mehr das Geringste im Denken und Reden selbstverständlich. An den Redaktionskonferenzen und den Unterhaltungen
beim Mittagessen konnte sich Tobias kaum noch beteiligen. Manchmal fragten ihn seine Kollegen, warum er so still sei. Doch
es war ihm unmöglich, eine Antwort zu geben. Er hatte Angst, bei einem weiteren unbedachten Satz, einem weiteren vorschnellen
Geschmacksurteil endgültig auseinanderzubrechen.
An einer Überfülle von Einzelheiten
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