Vorsatz und Begierde (German Edition)
konnte erst dann geschehen, wenn ihn eine Polizeibeamtin begleitete, was sich wiederum nicht so schnell arrangieren ließ. Es war eine jener Widrigkeiten, mit denen er sich nur schwer abfinden konnte. Er wußte aber, daß es unklug war, den Blaneys ohne eine Polizeibeamtin einen längeren Besuch abzustatten. Ob der Mann nun verdächtig war oder nicht, jedenfalls konnte Rikkards nicht das Risiko eingehen, daß man ihm später vorwarf, er habe einer Halbwüchsigen ohne Beachtung der einschlägigen Vorschrift Informationen entlockt. Andrerseits hatte Blaney das Recht zu erfahren, was mit seinem Bild geschehen war. Falls die Polizei es ihm nicht mitteilte, würde es ihm binnen kurzem jemand anders hinterbringen. Deswegen war es wichtig, daß er das Gesicht des Mannes sah, wenn dieser von dem beschädigten Porträt und dem Mord an Hilary Robarts erfuhr.
Er konnte sich nicht erinnern, je ein bedrückenderes Haus als Scudder’s Cottage gesehen zu haben. Es nieselte, und so erblickte er das Cottage und den verwahrlosten Garten durch einen Schleier aus Wassertröpfchen hindurch, der Umrisse und Farben zu einem formlosen Grau verschmolz. Constable Gary Price blieb im Wagen, während Rikkards und Oliphant über den fast zugewucherten Pfad auf das Haus zugingen. Eine Türglocke war nicht zu sehen. Als Sergeant Oliphant den eisernen Klopfer betätigte, wurde ihnen sogleich geöffnet. Ryan Blaney stand vor ihnen – gut einen Meter achtzig groß, hager, mit verquollenen Augen, als hätte er zuwenig geschlafen. Er musterte sie unfreundlich. Sein rötliches Haar war glanzlos. Rikkards konnte sich nicht entsinnen, schon einmal einen Mann gesehen zu haben, der so erschöpft wirkte, sich aber dennoch auf den Beinen hielt. Blaney forderte sie nicht auf einzutreten, und Rikkards schlug es auch nicht vor. Damit wollte er warten, bis er mit einer Polizeibeamtin wiederkam. Auch mit der Befragung Blaneys konnte er sich Zeit lassen. Er wollte möglichst schnell zum AKW von Larksoken. Er teilte Blaney mit, das Porträt von Hilary Robarts sei zerschnitten im Thyme Cottage gefunden worden, gab aber sonst keine Einzelheiten preis. Blaney reagierte nicht.
»Haben Sie mich verstanden, Mr. Blaney?« fragte Rikkards.
»Ja, ich habe Sie verstanden. Ich weiß, daß das Bild nicht mehr hier ist.«
»Seit wann?«
»Seit gestern abend. Seit etwa Viertel vor 10. Miss Mair hat es abgeholt. Sie wollte es heute vormittag nach Norwich mitnehmen. Sie kann’s Ihnen bestätigen. Wo ist es jetzt?«
»Wir haben es in Verwahrung genommen, wenn auch in ramponiertem Zustand. Wir brauchen es für eine kriminaltechnische Untersuchung. Wir können Ihnen selbstverständlich eine Bescheinigung ausstellen.«
»Was nützt mir das? Sie können das Bild und Ihre Bescheinigung behalten. Es ist zerfetzt, sagten Sie?«
»Zerfetzt nicht, es ist mit zwei geraden Schnitten beschädigt worden. Vielleicht kann man es restaurieren. Wir bringen es beim nächsten Mal mit, so daß Sie es identifizieren können.«
»Ich möchte es nicht mehr sehen. Sie können es behalten.«
»Sie müssen es aber identifizieren, Mr. Blaney. Wir können darüber reden, wenn wir heute im Laufe des Tages vorbeikommen. Wann haben Sie übrigens das Porträt zum letztenmal gesehen?«
»Am Donnerstag abend, als ich es einpackte und im Atelier bereitstellte. Seitdem bin ich nicht mehr im Atelier gewesen. Was gibt’s darüber zu reden? Es war das beste Bild, das ich je gemalt habe, und diese Schlampe hat’s zerstört. Lassen Sie’s doch durch Alice Mair oder Adam Dalgliesh identifizieren! Die beiden kennen es.«
»Wollen Sie damit andeuten, Sie wüßten, wer es getan hat?« Blaney schwieg. Rikkards fuhr fort: »Na ja, wir sehen uns heute nachmittag so zwischen 4 und 5, wenn Sie nichts dagegen haben. Wir müssen auch mit Ihren Kindern reden. Wir nehmen eine Polizeibeamtin mit. Die Kinder sind jetzt in der Schule, nicht?«
»Die Zwillinge sind im Kinderhort. Theresa ist da. Sie fühlt sich nicht wohl. Aber Sie geben sich doch nicht soviel Mühe wegen eines zerschlitzten Porträts. Seit wann kümmert sich die Polizei um Bilder?«
»Wir kümmern uns auch um Sachbeschädigungen. Aber da ist noch etwas. Ich muß Ihnen mitteilen, daß Hilary Robarts gestern nacht ermordet worden ist.«
Er musterte aufmerksam Blaneys Gesicht. Das war der Augenblick der Erkenntnis, vielleicht der Wahrheit. Es war nicht vorstellbar, daß Blaney diese Nachricht vernahm, ohne irgendwelche Regungen – Schock, Furcht,
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