Vorsicht Nachsicht (German Edition)
wird.
Ich spüre den Blick auf mir.
Ich spüre ihn ganz genau.
Er wandert.
Wandert von meinem Gesicht über meine Brust, den Bauch, meine Lenden, die Beine entlang.
Er macht nicht Halt.
Er setzt nicht aus.
Er schaut nicht weg.
Er sieht mich.
Sieht alles.
Alles.
Ich rühre mich nicht.
Meine Atmung ist flach.
Das Herz hämmert schmerzhaft.
Ich hatte noch nie so viel Angst in meinem gesamten Leben. Angst und...
1. Kapitel
in dem es regnet und auch sonst alles so ist wie immer
»… und jetzt zum Wetter. Beate Fliege - unsere Wetterfrau - wird uns verraten, wie das Wochenende wird. Beate, können wir einen gemütlichen Grillabend mit Freunden auf dem Balkon planen?” Der Radiomensch lacht. Man hört es, wenn jemand beim Sprechen lacht. Oder lächelt.
Am Telefon, im Radio. Man hört es einfach.
Es macht den Sprecher sympathischer, fröhlicher, menschlicher.
Und ganz offensichtlich legt man bei diesem Sender um kurz vor sechs Uhr morgens besonders viel Wert auf Fröhlichkeit.
Ich schaudere.
Eilig gehe ich in die Knie und fummle an den Schnürsenkeln meiner Turnschuhe herum.
Übereinander, untereinander, eine Schleife, ein Knoten und festziehen.
Fertig.
»Ja, Till”, sagt nun eine samtige Frauenstimme. Wahrscheinlich Beate, die Wetterfrau. »Wir dürfen mit einem sonnigen Wochenende rechnen. Aber leider müssen wir dafür noch diesen verregneten Freitag ertragen. Heute Abend werden im Süden Deutschlands einige schwarze Regenwolken…”
Ich ziehe mir eine graue Kapuzenjacke über das schlichte, weiße T-Shirt und blende Beates weitere Ausführungen über das Wetter aus.
Handy und Schlüssel werden in der Jackentasche verstaut. Dann trete ich hinaus in den Flur. Fast lautlos fällt die Wohnungstür hinter mir ins Schloss.
Im Treppenhaus ist es ruhig und dunkel. Es riecht nach kalten Gewürzen.
Curry oder so.
Ich beeile mich, die Stufen nach unten zu gelangen.
Zweiter Stock, erster Stock, Erdgeschoss.
Jeder meiner Schritte hallt im Flur wieder. Die Wände sind kahl, schmutzig und hässlich. Ihr Anstrich ist ockerfarben.
Draußen regnet es. Nieselregen. Genau wie von Beate prophezeit.
Ich ziehe mir die Kapuze über den Kopf und schaue auf die Uhr.
Fünf Minuten nach Sechs.
Ich lasse das unauffällige Mehrfamilienhaus hinter mir, als ich mich langsam in Bewegung setze. Ein Schritt vor den anderen. Ich laufe federnd, entspannt, werde nach und nach schneller.
Die Luft ist kühl und feucht. Es riecht nach nassem Teer und einem verregneten Julimorgen. Grau und düster dämmert der neue Tag. Fast scheint es ihm an Motivation zu fehlen, an dem Wunsch anzubrechen und sich zu zeigen.
Ich halte den Kopf gesenkt. Meine Augen heften sich auf den pechschwarzen Asphalt des Bürgersteigs. Ich kenne die Straßen dieses Viertels. Ich lebe seit vier Jahren hier, seit dem Ende meines Studiums. Es ist ein ruhiger Stadtteil. In den meisten Häusern wohnen Familien oder Rentner. Kleine Gärten und Parkanlagen gestatten den Bewohnern die Illusion von Natur und Ruhe in einer sonst so hektischen, betongepflasterten und abgasverseuchten Stadt.
Wie von selbst tragen mich meine Füße die lange Straße entlang.
Meinen Rhythmus habe ich längst gefunden. Jeder Atemzug und jede Bewegung ist aufeinander abgestimmt. Wie bei einer Maschine.
Ich genieße das tägliche Laufen. Immer eine halbe Stunde. Dreißig Minuten. Auf die Sekunde genau.
Ich kenne die Strecke auswendig. Es ist immer dieselbe. Die lange Straße entlang, immer weiter um den Block, vorbei an einer kleinen Grundschule, einem Kindergarten und der Kirche des Viertels. Neben dem Friedhof befindet sich ein kleiner Park. Ein paar alte, hohe Bäume reihen sich um einen stillgelegten, runden Steinbrunnen in dem nie Wasser fließt. Sparmaßnahmen der Stadt.
Ich umrunde den Brunnen einmal und tippe dabei den mit Moos bewachsenen Rand an. Meine Fingerspitzen streichen über den kalten, glitschigen Stein.
Tag ein, Tag aus der selbe Weg.
Warum ich nicht mal eine andere Strecke ausprobiere?
Ich weiß nicht, darauf habe ich keine Antwort. Es hat sich einfach so eingespielt. Jeden Morgen um viertel nach sechs berühre ich den alten Steinbrunnen. Ich berühre ihn und weiß, dass er da ist, dass er schon gestern da war und dass er morgen wieder da sein wird.
Das fühlt sich gut an.
Dann mache ich mich auf den Rückweg.
Auf dem unebenen Schotterweg haben sich Pfützen gebildet. Von den hohen Bäumen tropft das Wasser. Die Blätter hängen satt
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