Vorsicht Nachsicht (German Edition)
immer sofort vergisst.
»Ich komme heute Abend nach der Arbeit wieder bei dir vorbei.« Ungeduldig werfe ich einen Blick auf meine Armbanduhr. »Okay...« Sie ist immer noch nicht richtig wach.
»Bis dann.« Ich beuge mich zu ihr runter und streichle kurz das wirre Haar.
»Bis dann, Max…«, murmelt sie leise.
Wie jeden Morgen verlasse ich die Wohnung mit einem unguten Gefühl. Würde sie ohne mein Wecken überhaupt aufwachen?
Seufzend schiebe ich die beunruhigenden Gedanken über Agnes von mir. Sie ist kein Kind mehr. Mit fünfundzwanzig sollte man im Stande sein, selbstständig zu leben. Zu überleben. Doch Agnes ist nicht normal. Sie ist verträumt. Ein Genie - aber nicht von dieser Welt.
Der Regen ist stärker geworden. Ich hole einen kleinen Schirm aus meiner Umhängetasche und spanne ihn auf. Immer darauf bedacht, nicht in eine der zahlreichen Pfützen zu treten, eile ich die lange Straße entlang. Ein Postauto rauscht vorbei und fährt holpernd über ein Schlagloch. Das darin angesammelte Wasser spritzt platschend in alle Richtungen. Ich weiche fluchend zurück, bin aber nicht schnell genug: Flecken auf meiner teuren Hose. Die Feuchtigkeit lässt mich schaudern. Ich werfe erneut einen Blick auf meine Uhr und beschleunige meine Schritte. In zwei Minuten fährt meine U-Bahn.
Gemeinsam mit anderen Pendlern stürme ich die steilen Treppen zum Schacht hinunter. Unten flimmert das grelle Licht unzähliger Leuchtstoffröhren. Es riecht nach feuchter Kleidung, nach Schmutz, überfüllten Mülleimern, Urin und dem ganz eigenen Geruch des endlos langen, kalten, tiefschwarzen Tunnelsystems.
Unausgeschlafen und schlecht gelaunt steht die brave Arbeiterschicht auf dem Bahnsteig und starrt mit sturen Blicken die teilweise abgerissenen und bemalten Werbeplakate an, die überall an den Wänden angebracht sind.
Das strahlende Lächeln eines verliebten Pärchens, das über einen weißen Sandstrand flaniert und für eine bestimmte Reisegesellschaft wirbt, könnte man fast schon als provozierend und beleidigend bezeichnen.
Schaut, schaut, ihr Deppen, schaut, was für eine gute Zeit wir haben. Ihr hingegen müsst fünf Tage die Woche, vierzig Stunden lang arbeiten und könnt euch dafür gerade mal zwei Wochen Halbpension auf Mallorca leisten. Ha!Die Bahn hat Verspätung. Warum auch nicht?
Schnaubend und leise vor sich hinmurmelnd machen die Leute ihrem Unmut Luft.
Im Stillen addiere ich einige Zahlen zusammen. Kleine Mathematikaufgaben für den Alltag. Das mache ich immer.
Ich überlege: Die Bahn braucht zehn Minuten bis zum Hauptbahnhof. Ich muss mir noch etwas zum Frühstücken besorgen – ein Zeitaufwand von etwa zwei Minuten. Die Agentur ist zu Fuß sehr gut erreichbar. Wenn ich mich beeile und nicht an jeder Ampel warten muss, benötige ich etwa sechs bis sieben Minuten. Es sind also aufgerundet zwanzig Minuten bis ich im Büro ankomme.
Ich schaue auf die Uhr. Zwanzig Minuten. Ich hoffe, die beschissene Bahn kommt gleich…
Da ich Unpünktlichkeit hasse, achte ich immer darauf, zeitig von zu Hause aufzubrechen. Ich komme nie zu spät. Weder im Berufs- noch im Privatleben.
Sowohl meine Kollegen als auch meine Freunde amüsieren sich gerne über meine Überpünktlichkeit. Ich kann nichts Lustiges daran finden. Ist es jetzt auf einmal uncool oder spießig, wenn man sich an Absprachen hält? Wozu vereinbart man sonst Ort und Uhrzeit?
Noch einmal wandert mein Blick auf das runde Ziffernblatt meiner Armbanduhr. Ich beiße die Zähne aufeinander und atme tief aus. Um halb zehn habe ich eine sehr wichtige Besprechung mit einem potentiellen Kunden…
Eine emotionslose, langsame Stimme schallt aus den unsichtbaren Lautsprechern. Sie klingt geschlechtslos und mechanisch. Rauschend breitet sie sich in dem unterirdischen Schacht aus. Die Information ist dermaßen uninformativ, dass sie kaum als eine solche bezeichnet werden kann. Ich verdrehe die Augen.
Wir erfahren lediglich, dass die U-Bahnlinie sechs Verspätung hat – was uns ja bereits aufgefallen ist.
Außerdem werden wir um Geduld und Verständnis gebeten. Beides ehrenwerte Tugenden, die hier aber nur schwer aufzubringen sind.
Ich hole mein Handy aus der Hosentasche und tippe schnell eine Nummer ein.
»Agentur Steiner; Werbung und Design; Hilda Illbrich; Guten Morgen.« Die Stimme klingt freundlich, ruhig und offen – genau wie man es von der perfekten Empfangsdame und Chefsekretärin erwarten würde.
»Hilda, ich bin’s: Max…«, sage ich
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