Vortex: Roman (German Edition)

Titel: Vortex: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Charles Wilson

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Wahrheit zu sagen, vor allem nicht, als er ausgezehrt vor ihr in seinem Sterbebett lag. Also nickte sie und sagte, sie würde das Bild beim nächsten Mal mitbringen. Zu Hause durchwühlte sie wieder besseres Wissen ihren Schrank, als erwarte sie, das Bild doch noch zu finden. Sie fragte sogar im Secondhandladen nach, aber das Bild war längst verkauft oder recycelt worden. Als sie ihn das nächste Mal besuchte, war er enttäuscht, und sie redete sich heraus und versprach, es am nächsten Tag mitzubringen, eine Lüge, für die sie sich einmal mehr schämte. Und so kam sie jeden Tag zu ihm, und jeden Tag war er schwächer und verängstigter, und jeden Tag fragte er nach dem Bild, und jeden Tag versprach sie, es am nächsten Tag mitzubringen. Er starb natürlich, ohne es gesehen zu haben.«
    Bis auf das Stöhnen der Stahlseile war es ganz still. Die Fragmente des Bogens kamen in immer kürzeren Abständen herunter, die Radardaten rollten wie leuchtend blaue Regentropfen über das Display. Turk schwieg eine Zeit lang. Schließlich sagte er: »Das ist Allisons Problem – nicht deines. Sie hat damit gelebt und ist damit gestorben. Du brauchst dich nicht damit herumzuschlagen.«
    »Nicht mehr, als du dich mit einem uralten Mord herumschlagen musst.«
    »Siehst du nicht den Unterschied?«
    Er hatte die Pointe der Geschichte nicht verstanden. Also stieß ich ihn mit der Nase drauf: »Überleg mal. Dieser temporale Bogen in der äquatorianischen Wüste. Der ist nicht wie die Bögen, die die Planeten miteinander verbinden – temporale Bögen sind nie für Menschen gedacht gewesen. Sie sind so etwas wie Langzeitspeicher der Hypothetischen. Sie bewahren Informationen, indem sie sie duplizieren. Die Hypothetischen haben dich gespeichert und sich an dich erinnert und dich wiedererschaffen . Und das bedeutet, dass der wirkliche Turk Findley so mausetot ist wie die wirkliche Allison Pearl. Du bist eine gelungene Reproduktion, aber geboren bist du in einer Wüste mit den Erinnerungen eines anderen, und du bist genauso wenig verantwortlich für die Sünden dieses Mannes wie ich für Allisons Sünden.«
    Turk starrte mich an. Für einen Moment sah er fast gewaltbereit aus; und für einen Moment hatte ich Angst vor ihm.
    Dann stand er auf und ging nach achtern, verschwand in den Schatten, ließ mich mit dem Unwetter allein.
    Im Laufe der nächsten Tage wurden die Einschläge seltener, und schließlich registrierte das Radar nur noch einen Wirbel aus Staub und kleineren Bruchstücken über der Atmosphäre. Aus dem Indischen Ozean ragten zwei zerklüftete Stümpfe. Jetzt war die Erde völlig isoliert – so allein im Universum, wie sie es in den Jahrmillionen vor dem Spin gewesen war.
    Turk und ich kamen nicht mehr auf das heikle Gespräch in jener Nacht zurück. Stattdessen fanden wir Trost in schlichten Worten und der Wärme des anderen. Womöglich waren wir falsche, nichtauthentische Wesen, aber wir verstanden uns. Und wir taten so, als würde die Zeit stillstehen.
    Tat sie aber nicht. Die Vorräte schrumpften. Und als wir unseren Aufenthalt auf dem felsigen Eiland nicht länger hinauszögern konnten, warf Turk die Vertäuung ab und hievte uns über die höchsten Wolken – wo wir die Sterne sehen konnten.
    Ich wollte weiter. Ich wollte dahin, wohin uns der Transporter nicht bringen konnte. Ich wollte hinaus zu diesen fernen Sonnen und Planeten, wollte mit Riesenschritten von Stern zu Stern ziehen, so wie es die Hypothetischen taten.
    Aber das war unmöglich. Wir konnten nicht einmal nach Hause. Wir hatten kein Zuhause. Wir hatten nur Vox, wenn es Vox noch gab. Also flogen wir nach Süden, die Morgendämmerung steuerbord und die Ruine der Zukunft hinter uns und vor uns nichts als Fremde – und eine vage Hoffnung.

29
    SANDRA UND BOSE
    Sandra saß am Fenster des Lokals und wartete auf Bose. Die Minuten tickten vorüber wie die Waggons eines endlosen Zuges. Fünfzehn Minuten. Dann dreißig. Dann vierzig. Was machen wir hier nur?, dachte sie. Das Unwetter schien neue Kräfte zu sammeln, ehe es wieder losschlug. Das war der Ausgleich für die wochenlange, unbarmherzige Hitze – eine schreckliche, karmische Bilanz wurde hier gezogen.
    Auf der anderen Straßenseite hielt ein Bus. Verschnaufte kurz, räusperte sich, um sich gleich wieder in die peitschende Nacht zu bohren. Auf den ersten Blick schien niemand ausgestiegen zu sein, doch dann machte Sandra eine Gestalt aus, die außerhalb des Lichtscheins der Straßenlaterne stand. Ein gelbes